Früherer Diakonie-Chef auf Bewährung:Auf der dunklen Seite der Macht

Ein Diakonschüler aus Rummelsberg berichtet, wie er von seinem früheren Vorgesetzten, Karl Heinz Bierlein, zu sadistischen Spielen verführt wurde.

Olaf Przybilla

Peter Lenzen hatte sich alle Mühe gegeben für sein Referat auf dem Brüderkonvent. Schließlich wusste er vorher, dass Karl Heinz Bierlein ebenfalls anwesend sein würde. Der Diakonschüler Lenzen kannte seinen Vorgesetzten bis zu jenem Tag im März 2007 überwiegend aus der Entfernung.

Karl Heinz Bierlein, dpa

Karl Heinz Bierlein hat seinen Strafbefehl angenommen - zu einer gerichtlichen Aufarbeitung der Vorwürfe gegen ihn wird es damit nicht mehr kommen.

(Foto: Foto: dpa)

Doch nach seinem Vortrag stand Bierlein plötzlich mit weit ausgebreiteten Armen vor dem jungen Mann. Er hatte ihn an seinem Auto abgepasst. Als er ihm dort die charmantesten Worte sagte über sein Äußeres und seine Art zu sprechen, da sah Lenzen all das bestätigt, was er über seinen Chef stets gehört hatte: Bierlein - der Charismatiker und Menschenfreund.

Neun Monate später hat Lenzen einen fünf Seiten langen Brief geschrieben und ihn an die Kriminalpolizei geschickt. Der Brief hat nicht nur die Welt in Rummelsberg verändert. Er hat die evangelische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert.

Seit Freitag ist Bierlein - Seelsorger und Träger des Bundesverdienstkreuzes - rechtskräftig verurteilt. In insgesamt sechs Fällen hat er sich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht. Unter einem Vorwand habe er Diakonschüler mit Metallklammern malträtiert, heißt es im Urteil. Auch mit Stock und Gürtel soll Bierlein zugeschlagen haben.

Er ist nun vorbestraft, festgesetzt wurde eine Bewährungsstrafe von elf Monaten Haft. Weil der Pfarrer den Strafbefehl akzeptiert hat, wird es nicht mehr zu einem Prozess kommen. Und damit auch nicht mehr zu einer öffentlichen Klärung der Vorwürfe.

Der Verführer

Lenzen heißt in Wirklichkeit anders. Er schäme sich furchtbar für das, was er mit sich machen ließ, sagt er. Er habe sich manipulieren lassen, wie er sich das niemals hätte vorstellen können. Wer sich mit dem heute 22-Jährigen unterhält, bekommt den Eindruck eines Mannes, für den in den vergangenen Monaten eine Welt zusammengebrochen ist.

Lenzen spricht leise, bedächtig. Ob es mit seiner Ausbildung in Rummelsberg weitergehen wird, hing in der Schwebe. Er wird von Psychologen betreut. Aber wie ihm das passieren konnte, das habe ihm noch keiner erklären können, sagt er.

Bald nach den Komplimenten am Auto hat Bierlein dem Schüler ein Angebot gemacht. Einen ganz großen Diakon werde er aus ihm machen. Die Teilnahme an einem "wissenschaftlichen Buchprojekt", das Bierlein angeblich vorantrieb, war nicht einmal die Bedingung dafür.

Sie ergab sich scheinbar ganz von selbst. Wenn er sich anstrenge, dann gehöre er ab sofort zum auserwählten Kreis in Rummelsberg, die am Projekt teilnehmen dürfen, hatte Bierlein gesagt.

Lenzen erzählte seinen Eltern gerne von der Ehre, die ihm damit zuteil wurde. Berichtete von Bierlein, dem Vorstandschef eines Sozialkonzerns von 6200 Mitarbeitern und einer Bilanzsumme von 522 Millionen Euro. Schwärmte vom Bundesvorsitzenden des Deutschen Evangelischen Verbandes der Altenhilfe und Pflege, von dem Mann, über den sie in der evangelischen Kirche sagten, er sei gleichsam die Verkörperung des Sozialen.

Raffinierte Vorgehensweise

Wenn einer im Diakonischen Werk sich traute, mit Inbrunst gegen die Kirche zu wettern, wenn ausgerechnet an der Pflege gespart werden sollte - dann traute sich das Bierlein. In Rummelsberg, wo die Diakone für ganz Bayern ausgebildet werden, verehrten sie ihn dafür mehr als den Landesbischof. Und nicht nur in Rummelsberg.

All das durfte der Schüler seinen Eltern erzählen. Nur nicht von Bierleins Experimenten. Wenn er mit jemandem darüber spreche, so gefährde er die Versuchsreihe, hatte Bierlein gesagt.

Um die Entwicklung von Jungdiakonen sollte es in dem Buch gehen, auch um Sexualität, den eigenen Körper und Autoritätsglauben. In den Sitzungen ging es dann um Gürtel- und Stockschläge und Metallklammern an den Brustwarzen.

An einem Abend, erinnert sich Lenzen, habe Bierlein dem Schüler gesagt, dieser habe ihn nun vollends in der Hand. Würde jemand davon erfahren, dass hier ein Pfarrer, einer der Spitzenvertreter der evangelischen Kirche, halbnackt vor einen Schutzbefohlenen trete, und das im eigenen Büro bei zugezogenen Vorhängen - dann würde er, Bierlein, tief stürzen.

Warum Bierlein trotz der Bewährungsstrafe Pfarrer bleibt, lesen Sie auf Seite zwei.

Auf der dunklen Seite der Macht

Genau das, sagt der Schüler, waren die genialsten Momente des Verführers Bierlein. Je häufiger der Konzernchef ihm beteuerte, wie sehr Lenzen ihn ab sofort in der Hand habe, desto weniger traute sich der Schüler darüber zu sprechen. Immerhin, 20 junge Diakone sollten Bierleins Experimente zuvor mitgemacht haben. Und keiner hatte sich je zu erkennen gegeben.

Einmal - Bierlein hatte die Hand plötzlich an einer heiklen Stelle des Diakonschülers - soll der Rektor gesagt haben: Vorsichtig jetzt, sonst könnte man am Ende noch denken, Bierlein, der Familienvater, sei homosexuell. Lenzen erzählt, er habe sogleich jeden Gedanken daran verjagt.

Merkwürdige Briefe

Nur einmal habe er sich doch geweigert. Bierlein veranstaltete sein Frage-Antwort-Spiel. Er stellte dem Schüler eine theologische Frage. Lenzen musste darauf antworten. War die Antwort falsch, wurde Lenzen körperlich gezüchtigt. Was lässt ein Schüler gegen seinen Willen mit sich machen, soll Bierleins Fragestellung gewesen sein. Diese Tortur machte Lenzen mit.

Er weigerte sich erst, als Bierlein selbst Fragen beantworten wollte. Und sein Schüler ihm bei einer falschen Antwort eine Metallklammer an die Brustwarze stecken sollte. Was soll das, Rektor Bierlein, will Lenzen aufbegehrt haben. Und der habe geantwortet: Wenn er ihm das nun erläutere, dann gefährde er das gesamte Projekt.

Lenzen klammerte Bierlein. Aber nur am Finger. Es gibt eine SMS von Bierlein an Lenzen, geschrieben am 11. Dezember 2007 um 21.41 Uhr. Lenzen hat sie sich aufbewahrt. Irgendwie habe ihn der Stil der Mitteilungen immer fasziniert, weil er so anders war als die Art, wie Bierlein sonst mit ihm kommunizierte.

Wann immer Bierlein Schriftliches von sich gab, so sei er in diesen merkwürdig offiziösen Ton verfallen. "Wann wollen Sie mich zum Abschlussgespräch sehen? Ist alles in Ordnung? Gruss khb", schrieb Bierlein, der den Schüler sonst immer zu duzen pflegte.

Zwei Tage nach der SMS bestiegen drei Oberkirchenräte in München das Auto in Richtung Rummelsberg. Zwei Stunden dauerte die Vernehmung. Dann nahmen sie ihm den Schlüssel ab und erteilten ihm Hausverbot. Es sei der schlimmste Tag in seinem Berufsleben gewesen, sagt einer der Kirchenräte.

"Nicht gespürt"

Nachdem Bierlein, 56, sechs Monate geschwiegen hat, klingt er am Freitag aufgeräumt. Vorab macht er Komplimente, wie akribisch sich die Zeitungen in seine Sache eingearbeitet hätten. Das schafft gleich in den ersten Sätzen Vertraulichkeit.

Was seinen Fall betrifft, so müsse er darauf hinweisen, dass ihm nach dem strafrechtlichen noch ein dienstrechtliches Verfahren bevorstehe. Hat Bierlein Schutzbefohlene auch sexuell bedrängt? Er will das "weder bestätigen noch dementieren". Er räume ein, dass er Fehler gemacht habe und empfinde das als seelsorgerisches Versagen.

Dass sich die Betroffenen als Opfer empfinden, tue ihm leid. Er will das aber in den "betreffenden Situationen nicht gespürt" haben. Bierlein bleibt Pfarrer. Den Status hätte er dann verloren, wenn er zu wenigstens einem Jahr verurteilt worden wäre - das Gericht entschied sich für elf Monate.

Auch Hans Johnson (Name geändert) wurde Opfer der Verführungskunst. Den 27 Jahre alten Diakon malträtierte Bierlein mit Stock und Klammern. Johnson hatte sich bereits entschieden, aus der Kirche auszutreten. Sein Chef sei in der Diakonie allgegenwärtig gewesen, sagt er. Als evangelischer Diakon Bierlein dauerhaft zu entkommen, das habe er für "völlig unmöglich" gehalten - bis zu dessen Sturz.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: