Gehört hat Christa Lehrieder das mit dem "neuen EU-Mittelpunkt" im Würzburger Lokalradio, aber geglaubt hat sie die Sache zunächst nicht. Für solche Späße ist man in der Zeit um den 1. April doch nun wirklich alt genug. Immer dasselbe: Erst das große Uiuiui mit Livebericht und Originalton aus dem Dorf. Der Herr Bürgermeister darf auch was ins Mikrofon sagen, vorher haben sie ihm gesteckt, dass es klasse wäre, wenn "Ehre", "große Stunde" und "enormes Innovationspotenzial" darin vorkommen könnte. Dann werden alle Hörer zum angeblich neuen Europazentrum gelotst. Und am Ende erscheint man in der Lokalzeitung mit Bild, höhö. Der neue EU-Mittelpunkt also soll ausgerechnet in einem 80-Einwohner-Kaff irgendwo in Mainfranken liegen.
Nun hat Gadheim bereits eine Art Mittelpunkt, man findet ihn etwa zwanzig Meter nach dem Ortsschild und übrigens aus beiden Richtungen, egal also, ob man aus Veitshöchheim oder Güntersleben kommt. Am Dorfmittelpunkt liegen große Steine herum, das machen Dörfer ja mitunter so, wenn es keinen Orts-Feldherren gab oder wenigstens eine kleine Pest, an deren Bekämpfung man erinnern könnte. Als exakt an diesen Steinen die Gemeinde eine Europa-Fahne hisste, direkt vor dem Hof der Lehrieders, da ist Christa Lehrieder dann doch ins Grübeln gekommen. Immerhin liegt der Mittelpunkt der Europäischen Union bislang schon in Unterfranken, und zwar im westunterfränkischen Ort Westerngrund, wo die Leute eine Art Hessisch sprechen und Äbbelwoi für ein genießbares Erfrischungsgetränk halten.
Nun also der Brexit.
Da ist es einleuchtend, dass sich die Koordinaten verschieben werden in Europa - ganz grundsätzlich, aber auch im Fränkischen. Gadheim liegt etwa 70 Kilometer östlich von Westerngrund, warum sollte man da nicht plötzlich Mittelpunktbewohner von Europa sein? Christa Lehrieder fände es richtig toll. Die drüben in Westerngrund wahrscheinlich weniger.
Dokumentation:Mays Brexit-Brief an die EU
Mit diesem Schreiben an EU-Ratspräsident Donald Tusk hat die britische Premierministerin den Brexit eingeleitet.
Die neuen Koordinaten, sagt Gadheims Bürgermeister Jürgen Götz, stammen von einem Geografie-Institut aus Paris, die kennen sich mit so was aus. Und Götz hat die mal in ein Handy eingetippt und ist auf einem Acker auf der Gemarkung von Gadheim rausgekommen, was wiederum seit den Siebzigerjahren zur Gemeinde Veitshöchheim gehört. Damals haben sich die Gadheimer bei einer Abstimmung bewusst für Veitshöchheim und gegen Würzburg entschieden, sonst läge der Mittelpunkt der EU künftig in einer Universitätsstadt und nicht in Bayerns Frohsinns-City, wo sie einmal im Jahr den Franken-Fasching wie ein Hochamt begehen.
Wenn, sagt Götz, sich das alles bewahrheiten sollte mit dem Punkt; wenn im Westen keiner mehr ausschert und auch in Serbien erst mal alles so bliebe, wie es ist - dann würde es sich Markus Söder sicher nicht nehmen lassen, den neuen Mittelpunkt persönlich einzuweihen, irgendwann in zwei Jahren. Weil dafür ist Bayerns Heimatminister bekannt: Gibt es irgendwo einen Mittelpunkt mit Fahnen und Blasmusik zu versorgen, dann ist Söder nicht weit. Außerdem, sagt der CSU-Mann Götz, "Veitshöchheim kennt er ja schon". Stimmt: Es gibt Leute, die argwöhnen, Söder tue sich die ständigen Erniedrigungen seines Chefs Horst Seehofer nur noch an, um nicht die Ehrenkarte beim Franken-Fasching zu verlieren. Ist natürlich Quatsch, klingt aber gut.
Der Söder? Christa Lehrieder fände es gut, wenn der auf ihren Hof käme, den mag sie. Söder wird allerdings nicht mögen, wen sie noch viel mehr mag: den Guttenberg. Aber egal, sagt sie, und bittet zur Besichtigung in den Hof, womöglich kämen ja sogar beide, wenn das mit dem Punkt offiziell wird. Natürlich weiß niemand, ob es das je wird, es gibt ja allerhand Mittelpunkte von Ländern und Kontinenten, je nach Berechnungsmethode: Man kann die Breiten- und Längengrade zugrundelegen, aber auch einen Schnittpunkt des nördlichsten, südlichsten, östlichsten und westlichsten Punktes des jeweiligen Gebietes ermitteln. Und dann gibt es noch ein paar andere Methoden, die aber jetzt in Gadheim nicht so interessieren.
Einen Pfosten aufstellen, der das Zeug zur internationalen Relevanz hat, das ist immer gut, ganz egal, wie das ausgerechnet wurde. Kurt Adelmann, 81, saß 33 Jahre für die CSU im Veitshöchheimer Gemeinderat, gerade ist er mit seinem Fotoapparat zum Gadheimer Ortsmittelpunkt mit der EU-Fahne aufgebrochen und wartet nun darauf, dass sich der Wind günstig dreht. Adelmann hat noch genau in Erinnerung, wie Veitshöchheim von den Alliierten bombardiert wurde, er war neun damals. Und er sagt, dass die EU die beste denkbare Erfindung sei, um genau so was in Zukunft zu verhindern. Er könne allen Euro-Skeptikern nur empfehlen, "mal den einen oder anderen Soldatenfriedhof" zu besuchen. "So was ist heilsam", hebt Adelmann an, wird aber unterbrochen. Ein Autofahrer hält neben ihm, kurbelt die Scheibe runter und fragt, wo bitte dieser neue Mittelpunkt liegen soll. Der Mann am Steuer deutet auf den Rücksitz. Der Patensohn seiner Frau ist dieser Tage zu Besuch, er stammt aus der Nähe von Lyon und würde gern das neue Epizentrum Europas inspizieren.
Noch ragt hier nur ein kleiner Holzpfosten aus der Erde. Noch!
Jetzt wird es schwierig, weil eben Söder noch nicht da war, um den Punkt feierlich zu fixieren, geschweige denn EU-Offizielle oder die Geografen aus Paris. Aber klar, wo das Zentrum in etwa liegen könnte, das hat sich rumgesprochen, in Gadheim. Schräg gegenüber vom Ortsmittelpunkt führt ein schmaler Weg in Richtung Dorfäcker, man darf mit dem Auto da nicht reinfahren, aber Adelmann macht das jetzt einfach mal. Mein Gott, der Besuch kommt immerhin aus Frankreich. 150 Meter fährt er, dort bleibt Adelmann zurück, er ist nicht mehr so gut zu Fuß. Aber er deutet einen Pfad entlang bis zu einem Pfosten, der auf eine Gasleitung hinweist, dort muss man rechts in den Acker rein. Und irgendwo da müsste ein Kleinpfosten mit Flatterband provisorisch eingebohrt sein.
Peter Schäfer, pensionierter Oberstudienrat, und Eric Poiron, der Patensohn aus Frankreich, halten am Pfosten inne. So profan kann so ein Punkt aussehen. Und doch steht er für so viel. Die Deutschen, sagt Poiron, sind viel zuversichtlicher als die Franzosen, was die Zukunft der EU betrifft. Umso mehr müsse man jetzt zusammenhalten. Schäfer macht sich derweil ganz andere Gedanken. Sollten die Schotten auch noch ausscheren, meint er, komme der Pfosten ja ganz woanders hin. Hoffentlich nicht wieder nach Westerngrund.