Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Die dunkle Seite der Berge

Hunderte Touren hat Fotograf Bernd Ritschel hinter sich, manche seiner Bilder entstehen unter Lebensgefahr.

Von Benjamin Engel, Kochel am See

Heiß und schwül ist es am 9. August 2015 - ein drückender Sommertag. Die Wolken ballen sich über den Bergen am Alpenrand zu turmhohen Gebilden auf. Gegen Abend schiebt sich eine dunkle Front vom Walchensee auf den Kochelsee zu, Vorbote des nahenden Gewitters.

Jeder andere würde jetzt wohl vor dem drohenden Unwetter Schutz suchen - nicht so Bernd Ritschel. Der 53-jährige Kochler sieht endlich seine Chance gekommen. Er spurtet aus dem Auto, baut sein Stativ auf und schaut an der Brücke über den Loisach-Auslauf am Nordende des Kochelsees durch den Sucher seiner Kamera. Vor Spannung hat er sogar eine Gänsehaut. Jetzt darf es bloß nicht zu hageln und zu regnen beginnen, sonst ist das Motiv zerstört. Doch in der Dämmerung entlädt sich die elektrische Spannung aus den Wolken nur in Form von Blitzen. Gleißende, zuckende Lichtstränge tauchen den Himmel in dunkel-violettes Licht. Ritschel drückt auf den Auslöser. Er hat sich in der Nähe des Autos postiert. Denn die Fotoausrüstung könnte die Blitze jederzeit auf ihn lenken.

Tagelang hatte der erfahrene Fotograf vergeblich auf einen solchen Moment gewartet. Die Aufnahme war für ihn ein echter Glückstreffer. "Das betrachte ich als Geschenk", sagt er rund eineinhalb Jahre danach im Arbeitszimmer seines Hauses am Kochelsee. Das Foto wird in seinem aktuellen National-Geographic-Bildband "Dark Mountains" im Bruckmann Verlag erscheinen. Darin nähert sich der Fotograf den Bergen von ihrer düsteren, drohenden und doch atmosphärisch-faszinierenden Seite an. Jahrelang ist er um die Welt gereist, um Gipfel und Natur bei Dunkelheit, Sturm oder Gewittern zu fotografieren. Kontrast zu gängigen Postkartenmotiven mit strahlendem Sonnenschein, wie er es selbst schon in vielen seiner bisher 35 Bücher ins Bild gerückt hatte. "Meine einzige Chance war viel zu reisen, etwa dorthin, wo es die meisten Regentage gibt", sagt Ritschel.

Unter widrigsten Wetterbedingungen musste er geduldig bleiben und ausharren: Neun Tage verbrachte er auf den Lofoten bei Regen im Leihauto, schlief und kochte sogar im Wagen, um den perfekten Moment nicht zu verpassen, einen felsigen Monolith vor aufgepeitschten Wellen und steil ins Meer abfallenden Küstengebirgen.

Ruhig, geduldig und vor allem äußerst strukturiert wirkt der Fotograf mit dem grau-schwarzen Lockenschopf. Im Keller seines Hauses hat er seine Ausrüstung für die Fotoreisen in Regalen säuberlich geordnet. Neben Schlafsäcken verschiedenster Couleur hängen Rucksäcke. In getrennten Kisten liegen Seile, Karabiner und was es sonst noch so alles am Berg braucht. Zwei große Taschen mit Fotoapparaten, Objektiven und Stativen hat er zwei Tage vor der Abreise für Werbeaufnahmen im Auftrag eines Outdoor-Schuherstellers in Portugal und Spanien schon gepackt.

Wilde, freie Zeiten

Zu Geduld und Ruhe musste Ritschel aber erst finden. Womöglich haben dazu auch seine Frau Ela und seine 14-jährige Tochter Clarissa beigetragen. Denn von Jugend an suchte der in Wolfratshausen geborene und aufgewachsene Ritschel Abenteuer und Risiko. Die Schule war für ihn nur Notwendigkeit. Nach dem Abschluss auf der Fachoberschule schloss er, auch um seinen Vater zu beruhigen, eine Ausbildung zum Maschinenbautechniker ab. Viel lieber kletterte er, zunächst an den abgegriffenen Felsen am Isarhochufer bei Buchenhain und im Karwendel, später auf großen Expeditionen weltweit. Die passende Clique lernte er in der Wolfratshauser Alpenvereinssektion kennen.

Mit 18 Jahren stand Ritschel bereits auf mehreren 6000 Meter hohen Bergen in Peru. Vor 26 Jahren schaffte er es mit seinen Mitstreitern über den Westgrat auf den 4442 Meter hohen Mount Hunter in Alaska in damaliger Rekordzeit: Sie brauchten nur dreieinhalb Tage statt der bis dahin üblichen sechs bis zehn. Zwei- bis dreimal im Jahr war Ritschel zu dieser Zeit auf großer Expedition. Zehn bis 15 Jahre ging das so "Das waren wilde, freie Zeiten", erinnert er sich. "Wir wollten Abenteuer erleben und unsere Grenzen ausloten."

Mit seinen Bergkameraden wohnte er in einer Wohngemeinschaft, sie teilten sich zu mehreren ein Auto und sparten beim Essen. Aber sie waren auch grenzenlos egoistisch gegenüber Familie und Partnern, wie Ritschel zugibt. "Für uns gab es nur die Berge." 150 Tage pro Jahren waren sie unterwegs. Das Risiko, sich zu verletzen oder sogar zu sterben, war ständiger Begleiter. Dreimal wurde Ritschel von Lawinen mitgerissen, eine begrub ihn bis zum Hals, eine andere warf ihn in eine Gletscherspalte, einmal brach eine Halterung aus dem Fels - er konnte sich gerade noch festhalten. Jedes Mal blieb er unverletzt.

Die Kamera war zu dieser Zeit nur notwendiges Beiwerk, um die Expeditionen für Sponsoren und Vorträge festzuhalten. "Dann ist Faszination daraus geworden", sagt Ritschel. Die Begeisterung, dass auf einem Bild mehr entsteht, an Stimmung, Eindrücken und Farben. Ritschel stellte sich bei Reise- und Bergmagazinen mit seinen Fotos vor und bekam immer mehr Aufträge. Mit dem Erfolg wuchsen auch die Ansprüche. Er hospitierte bei einem Münchner Fotografen, wälzte Lehrbücher und investierte in die Ausrüstung.

"Ich war früher ein fotografierender Bergsteiger, jetzt bin ich ein bergsteigender Fotograf", fasst Ritschel seine Entwicklung zusammen. Er hat viele 5000 und 6000 Meter hohe Berge bestiegen bis zum markanten 7075 Meter hohen Satopanth in Indien, hat Extrembergsteiger wie Ralf Dujmovits und Gerlinde Kaltenbrunner für Fotos auf Expeditionen begleitet. Achttausender strebte er jedoch nie an. Die höchsten Berge der Welt auf der Normalroute zu erklimmen, habe ihn nie gereizt. Um in solch großen Höhen neue, schwierige Routen zu bewältigen, hätten seine Fähigkeiten aber nicht gereicht, gibt Ritschel zu.

Bis heute war der Bergbegeisterte auf mehr als 600 Hochtouren unterwegs, im Vorjahr hat er seine tausendste Skitour unternommen, war in 63 Ländern auf Expedition. Bald wird er auf seine hundertste Fernreise gehen. Doch obwohl das Unterwegssein Ritschel immer noch große Freude macht, ist er nachdenklicher geworden. "Als junger Mensch ist so ein Leben mit den vielen Reisen faszinierend", erklärt er. "Jetzt versuche ich, möglichst wenig zu fliegen und mit dem Auto zu fahren." Denn vor allem das Fliegen sei aus Umweltschutzgründen problematisch. Wenn ein Berufstätiger für zwei Tage in den Bergen Erholung suche, sei das aus seiner Sicht besser, als wenn er für zwei Tage etwa in eine Stadt oder ans Meer fliege.

Der Buchtitel ist angelehnt an einen Pink-Floyd-Song

Künftig will sich der Fotograf für seine Projekte mehr auf den nahen Alpenraum konzentrieren. Er ist auch deutlich weniger weg von zu Hause - nur noch 100 statt 150 Tage wie früher. Und wenn es sich vereinbaren lässt, kommen auf seine Reise auch seine Frau und seine Tochter mit.

Die Summe seines bisherigen Schaffens in mehr als 30 Jahren als Fotograf ist für Ritschel das aktuelle Projekt "Dark Mountains". Statt dem Buch-Cover-Titel spricht er lieber von "The Dark Side of the Mountains", angelehnt an den Pink-Floyd-Song "The Dark Side of the Moon". Den hörte er nämlich vor einigen Jahren mit einem Freund im Auto auf dem Weg zu einer rein privaten Skitour im nahen Karwendel. Am Berg zogen dunkle Wolken auf, wodurch die Natur ganz neuem Licht erschien. Ritschel griff zur Kamera - die Idee zu seinem aktuellen Bildband war geboren.

Das Buch ist für den Fotografen Kontrapunkt zur heutigen Hochglanzinszenierung der Bergwelt. Er will damit die Menschen animieren, die Faszination dieses Naturraumes neu zu entdecken, eben gerade auch dann, wenn es stürmt und ungemütlich ist.

Bernd Ritschel/Tom Dauer: Dark Mountains, 224 Seiten gebunden, 59 Euro, National Geographic Buchverlag, lieferbar vom 26. März an

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Quelle:
SZ vom 18.03.2017/eca
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