Forschung:Babys imitieren beim Schreien die Melodie ihrer Muttersprache

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Kathleen Wermke ist weltweit die einzige Professorin, die sich intensiv mit Sprachentwicklung im Säuglingsalter beschäftigt. Dazu analysierte sie fast 500 000 Audio-Dateien.

Von Anne Kostrzewa, Würzburg

Der vier Tage alte Säugling wimmert. Seine zarte Stimme quietscht, als würde sie Anlauf nehmen, dann setzt der Schrei zu einer regelrechten Berg- und Talfahrt an, bevor das Baby erneut Luft holt. "Ist das nicht absolut faszinierend?", fragt Kathleen Wermke und klickt auf die nächste Audio-Datei. Ein kurzes Weinen nur, dann fällt die Stimme ab. Wermke zuckt mit den Schultern. "Langweiliger. Aber die deutsche Sprachmelodie ist eben weniger prägnant als die chinesische."

Seit 30 Jahren beschäftigt die promovierte Verhaltensbiologin sich mit Babyschreien, am Uniklinikum Würzburg leitet sie das Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen der Poliklinik für Kieferorthopädie. Kathleen Wermke schätzt, dass sie mittlerweile eine halbe Million Laute auf ihrem Server archiviert hat. Viele davon hat sie selber aufgezeichnet, sie stammen von Babys aus aller Welt. Beim Vergleich dieser Babylaute hat Wermke nun eine faszinierende Entdeckung gemacht: "Schon die ersten Schreie von Neugeborenen tragen Spuren ihrer Muttersprache."

Am besten belegen kann Wermke das mit Babys aus Ländern, in denen tonale Sprachen gesprochen werden, wie beim chinesischen Mandarin. Hier bestimmen Tonhöhen die Bedeutung der Wörter mit. Babys, deren Mütter das Hochchinesisch sprechen, üben diese Vielfalt der Tonhöhen vom ersten Lebenstag an. Auch der vier Tage alte Säugling, dessen Aufnahme Wermke vorgespielt hat, wird seine ersten Worte einmal auf Mandarin sprechen, die typischen Tonvariationen hört man aus seinen Schreien bereits deutlich heraus. "Das allein ist schon eine phänomenale Leistung", sagt Kathleen Wermke. "Und es beweist, wie aufmerksam Babys im Uterus ihrer Umgebung lauschen - und dass sie sich nach der Geburt an wiederkehrende Melodien erinnern können."

In Wermkes Aufnahmen aus Paris setzen die Säuglinge auffallend oft zu Schreien an, die immer höher werden und ihren Höhepunkt erst am Ende erreichen, kurz vor dem Luftholen. Es sind Betonungen, wie Franzosen sie machen, wenn sie beispielsweise vom Élysée-Palast sprechen, oder vom Fabergé-Ei. Am Ende des Wortes geht die Stimme nach oben, wie in vielen französischen Wörtern. In der Schriftsprache erkennt man sie meist am Akzent auf dem letzten Buchstaben. Französische Babys erkennen sie im Mutterleib und brabbeln sie direkt nach der Geburt nach.

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Schon kurz nach der Geburt kann man am Schreien der Babys die Melodie der Muttersprache erkennen.

Kathleen Wermke hat sich mit ihren Doktoranden im alten Gebäudeteil der Zahnklinik eingerichtet. Im Sommer ist es hier drin fast zu kühl, so hoch sind die Decken, so dick die Mauern des verwinkelten Altbaus. Die vier winzigen Zimmer, in denen Wermke forscht, sind höher als breit. Babys lachen von Fotos an den Wänden. Am Boden liegen Plüschtiere, am Empfang steht eine Puppenküche. Sind die Kinder älter als ein paar Monate, kommen sie für die Aufnahmen hier her. Dann sitzen sie in der kleinen Schallkabine, die in einen der Räume gezimmert wurde, in einem Hochstuhl. "Die Kinder lieben es da drin, das ist wie eine Höhle", sagt Wermke.

Auch ihre Büroräume gleichen einer Höhle, einer eigenen kleinen Welt der Wissenschaft. Bis unter die Decke stapeln sich Bücher. Die tiefen Bogenfenster schlucken die Geräusche von draußen. Wermke ist weltweit die einzige Professorin, die sich so intensiv mit Sprachentwicklung im Säuglingsalter beschäftigt. Trotzdem - oder gerade deshalb - bekommt sie für ihre Projekte kaum Fördergelder. "Garagenforschung" nennt sie ihre Arbeitsbedingungen, das sei Segen und Fluch zugleich.

Der große Vorteil: Ihr Team habe freie Hand bei den vielfältigen Projekten, die Uniklinik und auch das bayerische Kultusministerium seien ihren Ideen gegenüber immer aufgeschlossen und unterstützen sie bestmöglich. Ihre Doktoranden bezahlen kann Wermke aus ihrem Budget aber nicht. Die forschen unbezahlt, oft über viele Jahre. Wermke sagt: "Dass ich mit so engagierten und begeisterten jungen Menschen arbeiten kann, ist ein Geschenk."

Umso wichtiger ist jeder Erfolg, jede neue Entdeckung auf dem Gebiet der Sprachentwicklung. "Ich lebe für Babylaute", sagt Wermke. "Sie sagen so viel darüber aus, wie wir zur Sprache kommen." Anders als von Linguisten oft behauptet, beginne die Sprache nachweislich nicht beim ersten Wort, sagt die Professorin triumphierend, "sondern in den ersten Monaten unseres Lebens. Babyschreie verändern sich von Woche zu Woche."

Dabei folge die Sprachentwicklung einem universellen Muster, das bei allen gesunden Babys gleichermaßen zu beobachten sei. Etwa, wann die Kleinen anfangen, mehrere aneinanderhängende Silben zu plappern, wie "ma-ma-ma". Zwar mixe jeder Säugling in diese Entwicklung die Melodie seiner Muttersprache hinein, das Grundschema des Spracherwerbs sei aber immer gleich. "Bereits nach zwei Monaten kann man erkennen, ob das Kind im Alter von Anderthalb Nachteile beim Sprechen haben wird", sagt Wermke.

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Genau dort möchte sie mit ihren neuen Forschungsergebnissen ansetzen. Wenn ein Baby am Schreien und Brabbeln erkennbar schon so früh Defizite zeige, könnte seine Therapie beginnen, lange bevor die Sprachentwicklungsstörung anhand seiner Wörter erkennbar würde. "Man könnte ihm etwa die Laute gesunder Säuglinge vorspielen", sagt Wermke. "Imitiert das Baby dann diese Laute, wie es die Merkmale seiner Muttersprache imitiert, könnte das seine Sprachentwicklung erheblich fördern." Babys könnten quasi einander therapieren. Das wäre revolutionär. Auch, ob Babys taub geboren wurden, ließe sich früher feststellen. Bei schwerhörigen oder tauben Kleinkindern könnte man Hörgeräte und Hörprothesen anhand der dokumentierten ersten Schritte auf dem Weg zur Sprache verlässlicher einstellen.

Um "saubere Referenzwerte" zu bekommen, wie Wermke sie nennt, achtet sie bei ihren Aufnahmen akribisch darauf, ob die Babys die typischen Merkmale ihrer Muttersprache in ihre Schreie übernehmen. Aussortiert werden etwa bilingual aufwachsende Babys, "weil sie die Merkmale beider Sprachen in ihren Schreien vermixen." Auch Babys von Müttern, die in ihrem Beruf zum Beispiel viel Englisch sprechen, fallen raus - weil das Baby dann im Uterus nicht nur seine Muttersprache mitbekommt, sondern auch das Englische.

Kreischen und Wimmern bringt die Forschung nicht weiter

Zum Weinen bringt Wermke die Kinder für ihre Aufnahmen nie. Aus ethischen Gründen - aber auch, weil das dabei entstehende Wimmern und Kreischen die Forschung nicht weiterbringt. "Ein Schmerzschrei ist etwas Unmittelbares, etwas Panisches. Da bleibt keine Zeit für die spielerische Variation, weil wir unter Schmerzen nicht darüber nachdenken, wie wir uns ausdrücken", sagt Wermke. Die besten Aufnahmen bekomme sie, wenn die Babys aufwachen und sich mit dem ersten Quengeln bemerkbar machen.

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In ihren bald 500 000 Audio-Dateien beeindrucken Wermke jene Laute am meisten, die eine Studentin im Nordwesten Kameruns aufgenommen hat. Dort lebt das Volk der Nso, ihre Sprache Lamnso ist ebenfalls eine tonale Sprache. Mit nur drei Tagen singt ein Säugling dort in einem Atemzug eine Weinmelodie, die deutschsprachige Babys allenfalls aus ihrer Spieluhr kennen dürften. Einen Nachteil haben deutsche Kleinkinder dadurch nicht. "Jeder gesunde Säugling bekommt das genetische Rüstzeug mit, das er braucht, um eine Muttersprache zu sprechen", sagt Kathleen Wermke. "Den anderen Babys wollen wir hier helfen. Und mit jedem kleinen Forschungserfolg gelingt uns das besser."

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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