Süddeutsche Zeitung

Förderzentren:Geistig behindert und verhaltensauffällig: "An diesen Extremfällen scheitern wir"

  • Langfristige Therapieplätze für geistig behinderte Kinder mit schweren Verhaltensauffälligkeiten sind rar.
  • Zwar können sie in jeder Kinderpsychiatrie aufgenommen werden, aber bisher gibt es nur in Würzburg 15 vollstationäre Betten.
  • Viele Kollegen fühlten sich allein gelassen und überfordert, auch weil gezielte Fortbildungen fehlten.

Von Anna Günther, Deggendorf

Der Morgen, an dem die Polizei kam, wird Monika Herold-Walther im Gedächtnis bleiben. Noch Monate später fühlt er sich wie Versagen an. Sie spürte, dass pädagogische Erfahrung und Idealismus Grenzen haben. Für die Schulleiterin der St.-Notker-Schule in Deggendorf war das eine bittere Erkenntnis, seit Jahrzehnten unterrichtet Herold-Walther geistig behinderte Kinder. Besonders tragisch aber ist es für den Buben. Mit 15 Jahren ist er stark wie andere junge Männer, aber kann sich nicht so ausdrücken. Er ist geistig behindert und zeigte schon als Kind schwere Verhaltensauffälligkeiten. Die Mutter war überfordert, er zog von Pflegefamilie zu Pflegefamilie. Seit sieben Jahren lebt er im Kinderheim, das wie die St.-Notker-Schule von der Lebenshilfe betrieben wird.

Ein Wachstumsschub löste wohl den aggressiven Anfall aus. Die Medikamente wirkten anders, der Bub zertrümmerte Möbel, ging auf Betreuer und Mitbewohner los. In die Schule durfte er längst nicht mehr, das Risiko, dass er andere verletzt, war zu groß. Betreuer und Lehrer wussten sich nicht mehr zu helfen. "Wir haben alle so gelitten", sagt Herold-Walther. Kinder abzuschieben sei für sie als Sonderpädagogin unerträglich. Dabei wirkt die 63-Jährige eher resolut. Komplizierte Kinder ist Herold-Walther gewöhnt, es gibt immer einige, die besonders herausfordern. Zwei sind derzeit so schwierig, dass sie nicht in die Schule dürfen. Hört man sich unter Schulleitern um, ist das kein Einzelfall.

Die Polizisten bemühten sich sehr, versichert Herold-Walther. Sie brachten den Buben nach Landshut in die Kinderpsychiatrie. Dort ist er noch immer. Dabei bräuchte der 15-Jährige nicht nur Medikamente, sondern eine gewohnte Umgebung, Therapie und Schule, sagt die Sonderpädagogin. "Aber wir finden einfach keinen Platz für ihn." Was sie nicht sagen will: Problemfälle wie diesen, wollen nicht einmal die Experten haben. Und langfristige Therapieplätze für geistig behinderte Kinder mit schweren Verhaltensauffälligkeiten sind rar. Zwar können sie in jeder Kinderpsychiatrie aufgenommen werden, aber bisher gibt es nur in Würzburg 15 vollstationäre Betten. Ende 2018 sollen in Haar bei München weitere Plätze eingerichtet werden.

Diese Versorgungslücke ist ein Prüfstein für das System, sagt Johann Lohmüller, der Verbandschef der bayerischen Sonderpädagogen. Viele Kollegen fühlten sich allein gelassen und überfordert, auch weil gezielte Fortbildungen fehlten. Und es gebe nicht genügend Kinderpsychiater, die sich mit geistig behinderten Kindern auskennen und den Lehrern Rat geben könnten oder sich die Behandlung zutrauen. Denn bei diesen Kindern sind andere Methoden gefragt als reden und malen.

Kinder wie der 15-Jährige sind keine Seltenheit in den 90 bayerischen Förderzentren für geistige Entwicklung. 10 300 Mädchen und Buben lernen dort, die meisten friedlich. Den Großteil dieser Schulen betreiben private Trägern wie Caritas, Diakonie, Lebenshilfe oder die Katholische Jugendfürsorge. "Das Thema beschäftigt uns seit Jahren sehr", bestätigt Ullrich Reuter, der Schulleiter der Nürnberger Jakob-Muth-Schule. Im Lebenshilfe-Landesverband steht er mit 50 Förderschulen ständig in Kontakt. Zwar seien bei 200 Schülern oft nur vier oder fünf so herausfordernd, dass medizinische Hilfe nötig ist. "Aber das reicht, um den Schulalltag zu dominieren. An diesen Extremfällen scheitern wir." Dabei habe jedes Kind ein Recht auf Bildung, "aber können wir das leisten, ohne Mitschüler und Mitarbeiter zu gefährden? Und wo sollen diese Kinder hin, wenn wir es nicht schaffen?" Ein Problem der Lehrer sei auch das Gefühl, es nicht geschafft zu haben. "Wir sind oft die letzte Station, wenn es nirgends mehr geht."

Dabei sind sich offenbar alle des Dilemmas bewusst, und trotzdem geht kaum etwas voran. Bisher ist es laut Kultusministerium nicht vorgesehen, an den Förderschulen für geistige Entwicklung auch Lehrer einzusetzen, die mit verhaltensauffälligen Kindern umgehen können. Untersuchungen zeigten aber mittlerweile, dass mehr als die Hälfte der geistig behinderten Kinder deutliche Verhaltensauffälligkeiten hat, sagt Reuter. Das Ministerium verweist auf Fortbildungen und eine Anleitung, die gezielt auf den Umgang mit diesen Kindern eingeht. Die Anleitung gibt es seit gut zwei Jahren, Reuter hat mit Kollegen und Professoren daran mitgeschrieben. Viele private Schulen haben längst in Eigenregie ihre Mitarbeiter fortgebildet. Die Lösung könne aber nur mehr Personal sein, sagt Michael Eibl, der Direktor der Katholischen Jugendfürsorge in Regensburg. An allen Förder- und auch an den Regelschulen müssten Sonderpädagogen angestellt werden, die sich mit Verhaltensauffälligkeiten auskennen.

Dass es aus Sicht der Schulleiter zu wenig Kinderpsychiater gibt, kann Daniela Thron-Kämmerer nicht nachvollziehen: "Wir sind 150 Kinder- und Jugendpsychiater in Bayern, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Kollegen behinderte Kinder ablehnen." In ihrer Praxis in Landshut bekomme die Verbandsvorsitzende der bayerischen Kinderpsychiater kaum Anfragen von Eltern geistig behinderter Kinder. Die Schulen müssten bei den Ärzten in ihrer Nähe auch Supervision und Diagnostik einfordern, sagt Thron-Kämmerer.

In Deggendorf wollen Vertreter von Schulen, Kliniken und Politik in der kommenden Woche besprechen, wie Krisen besser bewältigt werden. Monika Herold-Walther ist zuversichtlich. Aber die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam.

15 Plätze

Bisher gibt es nur in der Kinderpsychiatrie am Greinberg in Würzburg 15 stationäre Plätze, um gezielt geistig behinderte Kinder mit psychischen Problemen zu behandeln. Entlastung soll eine Spezialstation am Isar-Amper-Klinikum in Haar bringen, die Ende 2018 öffnen soll. Insgesamt gibt es 675 stationäre Betten und 463 Plätze in Tageskliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie. 128 Betten und 56 Klinikplätze sollen bald dazukommen. Seit dem Jahr 2000 hat sich das Angebot verdoppelt. Für Ärzte und Sonderpädagogen ein Bruchteil dessen, was nötig wäre.

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SZ vom 18.02.2017/jey
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