Flüchtlingspolitik:Deshalb legt sich Seehofer mit Merkel an

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Bundeskanzlerin Angela Merkel und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages. (Foto: imago stock&people)
  • CSU-Chef Horst Seehofer lässt keine Gelegenheit aus, die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende zu kritisieren.
  • Es geht dem bayerischen Ministerpräsidenten um den richtigen Umgang mit den Zufluchtsuchenden in Deutschland.
  • Merkel betont die Chancen viel mehr als die Risiken und gibt sich mit ihrem neuen Slogan, "Wir schaffen das", zuversichtlich.
  • Seehofer hingegen warnt vor den gesellschaftlichen Folgen der Flüchtlingskrise - auf Kosten der Kanzlerin.

Von Nico Fried

Am Donnerstag war's wieder wie so oft mit Horst Seehofer. Hinter verschlossenen Türen hat er stundenlang ganz sachlich verhandelt. Auch mit der Kanzlerin ging er anständig um, berichten Teilnehmer des Bund-Länder-Gipfels zur Flüchtlingsfrage, kleine Frotzeleien inklusive, beiderseits. "Damit mich die großen Länder nicht wieder kritisieren . . .", soll Angela Merkel an einer Stelle scherzhaft geseufzt haben. Ohne dass sie Seehofer dabei anschaute, wusste jeder, wer gemeint war.

Auch in der kleinen Runde, die immer wieder über Geld redete, wirkte Seehofer, zusammen mit drei anderen Ministerpräsidenten, an Kompromissen mit. Der bayerische Regierungschef ist ein kundiger Verhandler, immer im Film, wie Menschen zu berichten wissen, die ihm bei schwierigen Gesprächen schon gegenübersaßen. Das Ringen um die Kosten der Versorgung von Flüchtlingen fiel zur Zufriedenheit aller aus, mal abgesehen von Wolfgang Schäuble vermutlich, dem Finanzminister, der am Ende mächtig was springen lassen musste.

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Quasi mit vollen Taschen machte sich Seehofer am Freitag wieder auf den Heimweg nach Bayern, zufrieden mit sich, wie meistens, und zurück blieb allein die Frage: War das Zerwürfnis mit Angela Merkel nur Teil einer Verhandlungsstrategie? Hat der CSU-Chef Druck aufgebaut, nur um seine finanziellen Forderungen durchzusetzen, von der Flüchtlingshilfe über die Regionalisierungsmittel bis zu den Millionen aus dem gescheiterten Betreuungsgeld?

Die Antwort ist einfach: ja und nein. Einerseits kam Seehofer der Streit gelegen, aus innenpolitischen Gründen, wobei seine Innenpolitik stets an den Grenzen des Freistaats Bayern ausgerichtet ist. Und an der CSU. Das ist der Teil des Konflikts, der mit Taktik zu tun hat. Andererseits geht der Streit zwischen Seehofer und Merkel viel tiefer. Er berührt eine grundsätzliche Differenz zwischen dem CSU-Chef und der CDU-Vorsitzenden, der mit der Frage zu tun hat, wie viel Veränderung einer Gesellschaft zuzumuten ist. Ein solcher Konflikt stand vor elf Jahren schon einmal zwischen ihnen, damals in der Sozialpolitik. Er wirkt nicht nur bis heute nach - er wiederholt sich gerade.

Das Taktische zuerst. Ein guter Kenner von Merkel und Seehofer hat mal gesagt: "Wenn beide stark sind, gibt es keine Rivalität." Entscheidend ist der Umkehrschluss: Wenn einer nicht stark ist, droht Ärger. Und Seehofer war zuletzt gar nicht stark. Die Pkw-Maut? Aufgeschoben. Das Betreuungsgeld? Vom Verfassungsgericht kassiert. Und daheim in München Spekulationen über seine Gesundheit und immer der ehrgeizige Markus Söder als potenzieller Nachfolger im Genick.

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Insofern kam Horst Seehofer die Nacht zum 5. September gerade recht, die Nacht, in der Angela Merkel entschied, die Grenze für Flüchtlinge aus Ungarn zu öffnen. Seehofer war nicht erreichbar - oder wollte nicht erreichbar sein. Die einen sagen so, die anderen so. Seither jedenfalls ließ er keine Gelegenheit mehr aus, Merkel für die Entscheidung an sich und für das Überrumpeln der Länder zu kritisieren. Und er ließ keine Gelegenheit aus, Merkel zu provozieren, vor allem mit dem Empfang von Viktor Orbán auf der CSU-Klausurtagung in Kloster Banz. Von einem Ausnahmezustand sprach Seehofer im Beisein des ungarischen Ministerpräsidenten, der gerade dabei ist, sein Land einzuzäunen. Chaotische Verhältnisse, beklagte der CSU-Chef, alles ausgelöst "durch eine deutsche Entscheidung". Merkels Entscheidung.

Im Kanzleramt: Kopfschütteln, Ärger, Wut

Im Kanzleramt verfolgte man diesen Rachefeldzug mit Kopfschütteln, dann verärgert, schließlich wütend. Aber Merkel weiß auch, dass Seehofer in solchem Furor nicht zu bremsen ist. Sie muss schauen, dass sie an anderer Stelle weiterkommt, in der Europäischen Union zum Beispiel oder jetzt bei den Vereinten Nationen; dass sie ein Gerüst baut, wie sie das im Kanzleramt nennen, ein Gerüst, das für die nächsten Wochen hält.

Und sie muss ihre Truppen zusammenhalten, vor allem die Bundestagsfraktion, was zumindest an der Spitze bislang gelungen ist, weil den Vorsitzenden und engagierten Christen Volker Kauder das Flüchtlingsthema nicht nur politisch berührt und weil die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt für ihre Zurückhaltung gegenüber der Kanzlerin stoisch Prügel aus den eigenen Reihen einsteckt. Manch einer freilich wartet nur auf weitere Absetzbewegungen. Schon wird gemunkelt, ob Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik die Kanzlerschaft verlieren könnte.

Ausgerechnet der stets loyale Innenminister Thomas de Maizière geriet am Donnerstagabend in den Verdacht des Renegatentums, als er in einer ZDF-Talkshow über die Entwicklung der Flüchtlingskrise sagte: "Außer Kontrolle geraten ist es mit der Entscheidung, dass man aus Ungarn die Menschen nach Deutschland holt." Kritik an Merkel? Eher nicht. Erst vor drei Tagen hatte de Maizière im Spiegel auf die Frage, ob er Seehofers Urteil über die Grenzöffnung teile, geantwortet: "Nein. Die Entscheidung war in einer Ausnahmesituation humanitär geboten. Hätten wir anders gehandelt, wären genauso viele Flüchtlinge gekommen - nur später." Und am Freitag wies er ausdrücklich die Einschätzung zurück, dass er Merkel habe kritisieren wollen: "Das ist grottenfalsch."

Seit dem Bund-Länder-Gipfel steht das Gerüst, zumindest der deutsche Teil. Manche Regierungschefs konnten ihr Glück kaum glauben, wie viel Geld der Bund letztlich bewilligte. Seehofer steht in Bayern und in der CSU so stark da wie lange nicht. Merkel dagegen wird mit der Mutmaßung umgehen müssen, sich mit ihrer Großzügigkeit vor allem von zusätzlichem Ärger freigekauft zu haben. Gibt Schlimmeres.

"Er hat ein gutes Gespür für Stimmungen."

Der eigentliche Konflikt zwischen Merkel und Seehofer aber bleibt noch auszutragen. So wie 2004, als die damalige Oppositionsführerin im Gesundheitswesen eine Kopfpauschale wollte. Für Seehofer war das mehr als eine gesundheitspolitische Stellschraube, es war das Symbol für ein ökonomisiertes Sozialstaatsverständnis, das er ablehnte. So wie vieles, was Merkel im Jahr zuvor auf dem Leipziger Parteitag als Reformen gefordert hatte.

Merkel, die ehemalige DDR-Bürgerin, hatte mit der Wende 1989 einen großen Umbruch erlebt. Sie fand es selbstverständlich, dass sich auch der Westen ändern müsse. Dabei schätzte sie falsch ein, wie sehr die Menschen an ihren Sozialsystemen hängen: jeder Eingriff ein Vertrauensbruch. Sie setzte sich durch, Seehofer trat als Fraktionsvize zurück, aber ein Jahr später kosteten Merkels radikale Reformpläne sie fast den Sieg bei der Bundestagswahl. Nun änderte sie die Richtung. Es war der Anfang dessen, was Kritiker als ihre Sozialdemokratisierung bezeichnen. Merkel stabilisierte sich als Kanzlerin, Seehofer indes fühlt sich als moralischer Sieger der Geschichte. So konnten beide zufrieden sein.

Jetzt, in der Flüchtlingskrise, geht es wieder um zwei unterschiedliche Vorstellungen. Merkel wolle ein anderes Deutschland, soll Seehofer im CSU-Vorstand gesagt haben. In gewisser Weise stimmt das auch. Zumindest betont die Kanzlerin unbeirrt wie nie und gegen alle Anfechtungen auch aus den eigenen Reihen die Chancen der Flüchtlingswelle mehr als die Risiken und gibt sich mit ihrem neuen Slogan "Wir schaffen das" als optimistische Animateurin einer Willkommenskultur, mit der sie noch bis vor Kurzem selbst eher fremdelte.

Seehofer kann zu Recht darauf verweisen, dass Bayern als Aufnahmeland die größte Last der Krise zu tragen und anerkanntermaßen gut bewältigt habe. Daraus leitet er aber auch die Legitimation ab, vor den gesellschaftlichen Folgen immer neuer Flüchtlingsströme zu warnen - auf Kosten der Kanzlerin. Und womöglich auch der Union. Deren Anhänger mögen Streit nicht besonders gerne. Sollten die Umfragen einbrechen, wird der Kampf um die Deutungshoheit beginnen: Merkels Schuld? Oder Seehofers? Da geht es wieder um das richtige Maß an Veränderung.

Im Jahr 2013 hat Angela Merkel einmal über Horst Seehofer gesagt: "Er hat ein gutes Gespür für Stimmungen." In der Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik kann sie sich allerdings nicht wünschen, dass sie damit recht behält.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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