Wegscheid:Was vom Flüchtlingssommer bleibt

Migrants are escorted by German police after crossing the Austrian-German border in Wegscheid

Für einen Moment rückte das kleine Wegscheid 2015 in den Fokus der Weltöffentlichkeit.

(Foto: REUTERS)

62 000 Flüchtlinge marschierten vor zwei Jahren über die deutsch-österreichische Grenze in Wegscheid. Der kleine Ort wurde zum Schauplatz einer großen Wanderung. Wie hat er sich verändert?

Reportage von Andreas Glas, Wegscheid

Mitten in Wegscheid hängt am Laternenmast ein Wahlplakat der AfD. "Grenzen schützen!" steht drauf, drüber ein Foto: Polizisten eskortieren Flüchtlinge über die Grenze nach Deutschland. Wer genau hinschaut, der erkennt am Fotorand das Wegscheider Bistro "Oklahoma".

Das Plakat hängt überall in der Republik, Wegscheid ist wieder präsent. Das Foto hat einen Moment eingefroren, in dem dieser kleine Ort zum Schauplatz einer großen Wanderung wurde. Und jetzt, zur Bundestagswahl, hat die AfD diesen Moment wieder aufgetaut.

Die Wahrheit ist: Man kann Bilder einfrieren, aber das Leben geht weiter, auch in Wegscheid. Es sind nur keine Reporter mehr da und keine Fotografen. Eben keiner, der dokumentiert, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist, nachdem Zehntausende Flüchtlinge einen Ort passierten, der selbst nur 5000 Einwohner hat.

Einen Ort, den es plötzlich hinein spülte in die Nachrichten - und genauso schnell wieder raus, als die Balkanländer ihre Grenzen dicht machten. Einmal Krise und zurück. Was macht das mit einem Ort und seinen Menschen?

"Das war schon surreal", sagt Lothar Venus, Zweiter Bürgermeister. Er steht auf der Brücke, die Deutschland und Österreich trennt, drunter blubbert der Osterbach, im Hintergrund wirbt das "Oklahoma" für die "letzte Bratwurst vor der Grenze". Der Bürgermeister schaut in die Wiese, wo damals Hunderte Männer, Frauen und Kinder im Gras saßen oder im Zelt hockten. Syrer, Afghanen, Iraker, die darauf harrten, dass Bundespolizisten wieder ein paar von ihnen über die Brücke holten. Eine Brücke, die heute einfach nur eine Brücke ist, aber damals das Nadelöhr nach Deutschland war.

Zwei Jahre ist das her, so ungefähr jedenfalls. Es ging über Monate, es gab nicht diesen einen Moment, als das Weltgeschehen die niederbayerischen Grenzorte erreichte: Passau, Simbach, Neuhaus, Wegscheid. Lothar Venus (CSU) merkte schon im Juli 2015, dass irgendwas komisch ist.

Er kam gerade aus der Sparkasse, da hielten am Marktplatz zwei klapprige Transporter. "Die haben die Leute einfach rausgeschmissen, zack, und Vollgas gegeben und weg waren die", sagt er. Danach hielten immer mehr Schleuser in Wegscheid, setzten immer mehr Flüchtlinge ab. Die Menschen klopften nachts an Schlafzimmerfenster, um nach dem Weg zu fragen, quartierten sich in Garagen ein, schliefen in Gärten. Ob die Wegscheider damit einverstanden waren, danach fragte keiner.

Es ist die Stimmung, die auch das AfD-Plakat transportiert: Wegscheid als Drohkulisse. Zur Bundestagswahl kramen die Parteien diese Wegscheid-Stimmung wieder raus. Nicht nur die AfD, man muss sich ja nur die CSU-Plakate anschauen ("Klar für Sicherheit"), auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz prophezeit: "Die Migrationswelle wird weitergehen." Das alles klingt beunruhigend und muss besonders denen Sorgen machen, die in Orten leben, über die die "Welle" mit voller Wucht hereinbrach. Oder?

Ach was, sagt Lothar Venus, hier sei das kein Thema mehr, "das ist total spurlos vorbeigegangen". Venus, 42, ist ein kräftiger Mann, ein "Brackl", wie die Niederbayern sagen. Einer, der anpacken kann. Und anpacken musste, weil Bund und Freistaat "uns im Stich gelassen haben". Damals ließ er eine Lastwagen-Halle räumen, Bierbänke reinstellen, palettenweise Tee, Obst und Toastbrot rankarren.

"Die Situation war beklemmend", sagt Lothar Venus, trotzdem hat halb Wegscheid mitangepackt - während in Städten, wo nachts kein Flüchtling ans Fenster klopfte, die Leute auf die Straße gingen und die Schließung der Grenzen forderten. "Aus der Entfernung redet es sich halt leicht", sagt der Bürgermeister. Wer die Not mit eigenen Augen sehe, "der hört auf mit den Stammtischparolen".

"Für das Sicherheitsgefühl in der Region hatte das alles eher einen positiven Effekt"

"Natürlich haben sich viele Sorgen gemacht", sagt Siegfrid Schätzl, 57, auch so ein Brackl. Er sitzt im alten Zollhaus, direkt an der Grenze. Heute ist es das Klubhaus des Schäferhundevereins, Schätzl ist der Vorsitzende. "Befremdlich" fand er, dass mit der Zeit immer mehr junge, alleinreisende Männer kamen. "Hurra habe ich nicht geschrien", sagt Schätzl - aber geholfen hat auch er, hat Frauen und Kinder ins Klubhaus geholt, da konnten sie duschen, Tee trinken, Windeln wechseln.

Ein krimineller Flüchtling "muss gehen, sofort, unverzüglich, Abflug", sagt Schätzl und lässt die flache Hand wie einen Flieger durch die Luft sausen. Er sagt aber auch: Dass Deutschland die Grenzen offen hielt, "finde ich immer noch richtig, weil es ein großes Elend war", erst recht als der Winter kam. "Wer schon mal barfuß im Schnee stand, der weiß, wie weh das tut."

Als der Winter kam, da waren es nicht mehr die Schleuser, da war es die österreichische Regierung, die täglich bis zu 3000 Flüchtlinge in Bussen zur Grenze karren ließ und an die deutsche Bundespolizei übergab. Eine Sauerei, sagt Bürgermeister Venus, aber für die Wegscheider "eine Erleichterung, ganz egoistisch gesprochen".

Insgesamt 62 000 Flüchtlinge marschierten vor zwei Jahren über die Brücke am Ortsrand, aber "das hat Wegscheid irgendwann nicht mehr groß interessiert, man gewöhnt sich daran". Manchmal, sagt Siegfried Schätzl, habe er sogar den Eindruck, "dass die Leute das vergessen haben".

Es ist beinahe verstörend, wenn man sich in Wegscheid umhört. In den Wahlsendungen reden alle über Flüchtlinge, die Wahlplakate schreien nach mehr Sicherheit - und ausgerechnet hier soll das kein Thema sein? Na ja, sagt Lothar Venus, "für das Sicherheitsgefühl in der Region hatte das alles eher einen positiven Effekt".

Er spielt auf die Grenzkontrollen an, die es seit zwei Jahren im Raum Passau wieder gibt. Mehrmals täglich fährt die Bundespolizei auch in Wegscheid Streife. "Wer unbedingt eingesperrt werden will, der bricht hier bei uns ein", sagt Venus.

Man sollte also besser rausfahren aus Wegscheid, will man doch noch Spuren finden, die der Flüchtlingssommer 2015 in Niederbayern hinterlassen hat. Es empfiehlt sich der Umweg über Österreich, runter nach Schärding, dann auf die A 3 in Richtung Passau. Fast drei Kilometer Stau sind es an diesem Mittwochvormittag an der Kontrollstelle am Rastplatz Rottal-Ost.

Ein Polizist steht auf der Autobahn, das Maschinengewehr im Anschlag, daneben eine Polizistin mit Kelle. Sie schaut argwöhnisch durch die Windschutzscheiben der Autos, die im Schritttempo vorbei rollen. "Sichtkontrolle", so heißt das in der Polizeisprache. Wer nach Schleuser aussieht, wird rausgewunken und kontrolliert. Seit nun fast zwei Jahren geht das so, seit dem 13. September 2015, als Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) verkündete, dass Deutschland seine Grenzen wieder kontrolliert.

Ist nichts geblieben außer Stau, Überstunden und einem AfD-Wahlplakat?

Ein Ärgernis, finden die Pendler, die täglich im Stau stehen. Eine Farce, finden diejenigen, die das alles für Showpolitik halten. Eine gute Sache, findet Timo Schüller, der Sprecher der Bundespolizei Passau, "die Fahndungstreffer geben uns recht". Als Beweis zeigt er eine Liste, die Bilanz eines normalen Tages im Sommer 2017: zwei Rumänen, ein Pole, ein Tadschike, alle ohne Einreiseerlaubnis, alle auf der Autobahn gestoppt.

Dazu zwei Afghanen, ein Kongolese, zwei Syrer, alle ohne Pass, alle im Passauer Bahnhof ertappt, wo jeder Zug aus Österreich kontrolliert wird. Mal zum Vergleich: Im Oktober 2015 sind mehr als 100 000 Flüchtlinge über Passau ins Land gekommen, heute sind es weniger als 200 im Monat - die Politik hält trotzdem an den Kontrollen fest und will sie sogar verlängern.

Zurück ins Auto, rauf auf die Autobahn, rein nach Passau. In einer alten Industriehalle hat die Bundespolizei im Sommer 2015 eine Registrierungsstelle für Flüchtlinge eingerichtet. Damals standen Holzstühle kreuz und quer, Hunderte Flüchtlinge schliefen auf Bierbänken, es roch nach Schweiß, nach feuchter Wäsche, nach Füßen, die zu lange nicht gewaschen wurden.

Heute gibt es die Halle immer noch, aber Asylsuchende zählt man an diesem Mittwochvormittag exakt: null. Tags zuvor waren es zwölf, "da war hier einiges los", sagt Polizeisprecher Schüller. Der Maßstab ist halt ein anderer, zwei Jahre danach.

Dass die Passauer Bundespolizei immer noch 200 Leute hier beschäftigt, dass immer noch ein paar Dutzend Unterstützungskräfte von außerhalb kommen - all das hält Schüller für sinnvoll. Käme eine neue Fluchtwelle, seine Kollegen könnten hier sofort 3000 Menschen kontrollieren und registrieren. "Wir müssen vorbereitet sein", auch wenn es derzeit keine Anzeichen gebe.

Für die Bundespolizisten heißt es Stellung halten statt Überstunden abzufeiern - auch die gehören ja zur Erbmasse dieses Sommers und des Herbsts 2015. "Das war schon heftig", sagt Schüller. Er und seine Kollegen kamen damals nicht mehr raus aus den Stiefeln, sahen ihre Familien kaum mehr, manche Ehen sind zerbrochen. Man war so beschäftigt, "man hat gar nicht begriffen, dass man Teil der Geschichte ist", sagt Schüller.

Was also ist geblieben, zwei Jahre nach dem geschichtsträchtigen Flüchtlingssommer in Niederbayern? Nichts außer Stau, Überstunden und einem Foto auf einem AfD-Wahlplakat? Siegfried Schätzl steht im Klubhaus des Schäferhundvereins und zuckt mit den Schultern, dann fällt ihm doch noch was ein: Die Erkenntnis, "dass es eine große Gnade ist, in diesem Land geboren zu sein". Einem Land, aus dem man nicht fliehen muss. Und das, sagt Schätzl, sei doch eine ganze Menge.

13 831 Menschen

haben im ersten Halbjahr 2017 in Bayern einen Asylantrag gestellt. Das geht aus der Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hervor.

Damit ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesunken. 2016 haben 82 003 Menschen im Freistaat Asyl beantragt. Deutschlandweit waren es im vergangenen Jahr 745 545 Personen. Das ist der höchste Wert seit dem Bestehen des Bundesamtes.

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