Siegenburg:Unten Erotikladen, oben Flüchtlingsheim

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Über dem Nachtclub "Café Atlantis" hat der Landrat Flüchtlinge einquartiert.

(Foto: Sebastian Pieknik)
  • Im niederbayerischen Siegenburg leben neun syrische Flüchtlinge über einem Nachtlokal.
  • Der Bürgermeister spricht von einem "unmöglichen Zustand", aber das Landratsamt hat bislang keine Alternative.
  • Im Ort gibt es viel Gerede über die Situation, die Flüchtlinge schämen sich.

Von Andreas Glas

Das "Café Atlantis" liegt am Kreisverkehr, gleich hinterm Ortsschild. Ein altes Haus, mit Rissen im Putz, an der Fassade eine Leuchtröhre, sie blinkt rot. Wer rein will, muss klingeln, und wer drin ist, steht auf flauschigem Teppichboden, auch rot, so rot wie die Wände drumherum. Links geht es nach oben, zu den Flüchtlingen, rechts geht es an die Bar. Also erst mal nach rechts, erst mal ein Bier.

Am Tresen hockt niemand außer Veronika, schwarzes Haar, blauer Lidschatten. Ihr Kleid ist kurz, die Absätze sind hoch. Es riecht nach Schnaps, Puder und Damenparfüm. Es riecht wie im Puff, könnte man sagen, aber dann würde man Ärger kriegen mit der Chefin. "Wir sind ein Animierlokal, mehr nicht", sagt Anneseta Piehler.

Gerede im niederbayerischen Siegenburg

So ganz stimmt das nicht. Seit drei Wochen ist das "Café Atlantis" nicht nur ein Nachtlokal, es ist auch eine Flüchtlingsunterkunft. Das hat für Schlagzeilen gesorgt ("Flüchtlinge sollen über Bordell untergebracht werden") und für ein ziemliches Gerede im niederbayerischen Siegenburg, 3300 Einwohner. "Die, die am g'scheitesten daherreden, die wissen überhaupt nicht, was da herin los ist", sagt Anneseta Piehler, pinkfarbenes Kleidchen, kein BH.

Zu denen, die g'scheit daherreden, zählt die Lokalinhaberin auch den Siegenburger Bürgermeister. Dass Flüchtlinge über einem Nachtlokal wohnen, dass es für die Flüchtlinge keinen separaten Eingang gibt, das ist für den Bürgermeister "ein unmöglicher Zustand". Wenigstens, sagt Johann Bergermeier, sei das Landratsamt "so schlau gewesen, dass es nur Männer einquartiert hat" - und keine Familien mit Kindern.

Trotzdem kriegt der Bürgermeister böse Briefe, in denen zynische Vorschläge stehen. Einer hat zum Beispiel geschrieben, der Bürgermeister solle den Flüchtlingen doch gleich Freikarten für den Nachtclub schenken, "dann würden die ihr Kriegstrauma schon verlieren", zitiert Bergermeier. Und ein anderer hat sich beschwert, dass er kein Geld für seine Puffbesuche bekomme, den Flüchtlingen aber ein ganzes Etablissement zur Verfügung gestellt werde. "Das ist unteres Niveau", sagt Bergermeier.

Piehler versteht die Aufregung nicht

Und was sagt das Kelheimer Landratsamt dazu? "Nicht optimal" sei das alles gelaufen, räumt ein Sprecher ein. Allerdings sei die Unterbringung im Nachtclub der derzeitigen Lage geschuldet. Mit anderen Worten: Weil es an Flüchtlingsunterkünften fehlt, muss man nehmen, was man kriegen kann. Außerdem habe das Landratsamt nicht gewusst, dass die Vermieterin im selben Haus einen Nachtclub betreibe.

Schmarrn, sagt Anneseta Piehler. Sie steht hinterm Tresen und bürstet ihr Haar. Ein Gutachter des Landratsamts "war ja da und hat sich alles angeschaut". Sie versteht die Aufregung nicht. Sie findet, dass die Bedenken nur von außen reingetragen werden. Flüchtlinge im Nachtclub - warum solle das bitte schön nicht funktionieren? Hier unten, sagt sie, "haben wir kein Problem. Und ich glaube auch nicht, dass sie oben ein Problem haben".

Wie die Flüchtlinge die Situation sehen

Raus auf den roten Flur, rauf in den ersten Stock. In der Küche steht Abdulmaseeh Entakly am Herd und kocht Spaghetti Bolognese - für alle neun Syrer, die hier wohnen. Er ist Ingenieur und schaut auch so aus: Brille, Karohemd. Seine Frau weiß Bescheid, aber die anderen haben daheim nicht erzählt, wo sie hier einquartiert wurden. Nicht, dass ihre Frauen noch das gleiche denken wie mancher Siegenburger: dass die neun Syrer nur an der Bar abhängen und die Mädels angraben.

Abdulmaseeh Entakly, 39, weiß von solchen Gerüchten. "Wir schämen uns vor den Leuten im Dorf. Weil die Leute vielleicht glauben, dass wir glücklich sind über die Situation." Anfangs habe ja keiner von ihnen begriffen, dass das "Café Atlantis" gar kein Café ist. Erst nach zwei, drei Tagen, als die Inhaberin plötzlich in der Küche stand, mit zwei Mädels in sehr kurzen Röcken, auf sehr hohen Schuhen, da sei den Männern alles klar gewesen. "Danach haben wir in der Gruppe diskutiert: Können wir das akzeptieren?"

"Es ist ein warmer Ort"

Inzwischen steht fest: Sie müssen das akzeptieren, sie haben keine Wahl. Bürgermeister Bergermeier hat das Landratsamt aufgefordert, ein anderes Quartier zu finden - aber die Behörde bleibt bei ihrer Entscheidung: Weil es derzeit kaum Vermieter gebe, die dem Landkreis ihre Immobilien anbieten, müssen die neun Syrer im "Café Atlantis" bleiben.

Und jetzt? Entakly sitzt am Küchentisch, er wickelt Spaghetti auf seine Gabel, zuckt mit den Schultern. "Die Situation ist nicht lustig, aber wir müssen damit klar kommen." Und um die Sache mal einzuordnen, sagt er: "Wir haben dem Krieg und dem Tod ins Gesicht geschaut, wir waren drei Wochen auf der Flucht, wir waren mit 300 Leuten in einem Lager. Wer das weiß, versteht vielleicht, dass die Situation schon okay ist für uns." Zumal die Zimmer schön seien, die Mitbewohner und Helfer sehr nett. "Es ist ein warmer Ort", sagt Entakly.

Unten klingelt es an der Tür. Nein, keine Kundschaft, nur Josef Cindric, ein dünner, grauer Mann, freiwilliger Helfer. Er bringt den neuen Kühlschrank für die syrischen Flüchtlinge, der alte Kühlschrank ist winzig, viel zu klein für neun Männer. Annaseta Piehler hat den Kühlschrank angeschafft und bezahlt, genau wie den neuen Backofen, den die Syrer schon eingebaut haben. "Sie kümmert sich sehr gut um die Männer", sagt Josef Cindric.

"Wir sind immer noch in Siegenburg"

Sie werde noch mehr neue Möbel besorgen, sagt Piehler, "aber alles auf einmal geht nicht", kostet ja alles Geld. Es ist jetzt halb zehn, die Chefin hat sich ein Glas Cognac eingeschenkt. Am Tresen hockt Veronika immer noch ganz alleine, auf dem Flachbildfernseher läuft eine Krimiserie, an der Eisenstange tanzen keine nackigen Mädels, nur die Lichter der Discokugel. Viel sei hier nicht los, sagt die Chefin, mehr als zwei Mädels seien nie da, "wir sind nicht in Regensburg oder Ingolstadt, wir sind immer noch in Siegenburg".

Oben, am Küchentisch, raucht Abdulmaseeh Entakly eine Zigarette. Er wisse, dass mancher Siegenburger sich Sorgen mache, dass die neun syrischen Männer ein falsches Frauenbild kriegen könnten. "Aber nur weil die Frauen hier aussehen wie in einem Pornofilm", seien sie kein Freiwild, sagt Entakly, "wir wissen schon, dass nicht alle Frauen in Deutschland so sind. Wir sind nicht blind, wir können da unterscheiden". Und außerdem, witzelt er, seien fast alle der neun Männer jenseits der Vierzig. "Wir sind doch längst über das gefährliche Alter hinaus."

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