Süddeutsche Zeitung

Abschiebepraxis in Bayern:Selbst Muhamet, dem Epileptiker, droht die Abschiebung

  • Fast 800 Balkanflüchtlinge in allen drei fränkischen Regierungsbezirken, in der Oberpfalz und in Niederbayern bekamen Ende November Post - sie sollten sofort nach Bamberg kommen.
  • In einer früheren US-Kaserne sind dort Flüchtlinge aus den Balkanstaaten untergebracht, die keine Chance auf Asyl haben.
  • Flüchtlingshelfer sind empört angesichts der unnachgiebigen Methode der Regierung.

Von Andreas Glas, Olaf Przybilla und Lisa Schnell, Nürnberg/Regensburg

Elfije U. springt vom Sofa, rast rüber ins Schlafzimmer. Dort krümmt sich Muhamet im Gitterbett, er röchelt, sein Körper zuckt. Elfije U. packt ihren Sohn, dreht ihn auf die Seite. Damit der Schleim aus seinem Mund fließen kann, damit Muhamet nicht erstickt. Sie macht das 20-mal am Tag, immer wenn Muhamet einen Krampfanfall hat. Halb so wild, sagt U., hier in Deutschland gebe es gute Medikamente. Die Angst um Muhamets Leben hat sie längst hinter sich gelassen. Doch dann kam dieser Brief.

In dem Brief stand, dass die Familie ihre Koffer packen soll, dass sie in nicht mal 24 Stunden abgeholt und in die Ankunfts- und Rückführungseinrichtung für Balkanflüchtlinge nach Bamberg gebracht wird, manche sagen auch ins "Abschiebelager". "Wenn wir zurück nach Kosovo müssen", sagt U., "dann ist es aus mit Muhamet." Also hat sich die sechsköpfige Familie versteckt, als der Bus kam. Jetzt fürchten sie den nächsten Brief.

Befehl im Briefkasten

Familie U. ist nicht die einzige, die einen Brief von der Regierung von Oberfranken bekommen hat. Fast 800 Balkanflüchtlinge in allen drei fränkischen Regierungsbezirken, in der Oberpfalz und in Niederbayern hatten Ende November den gleichen Befehl im Postkasten: Sofort Koffer packen, ab nach Bamberg, in eine frühere US-Kaserne, in die Flüchtlinge aus den Balkanstaaten kommen, die keine Chance auf Asyl haben. Wer nicht freiwillig mitkommt, dem droht die Behörde mit "Vollstreckung durch unmittelbaren Zwang", mit Polizeigewalt. Und weiter heißt es: "Eine vorherige Anhörung und eine weitere Begründung" seien "entbehrlich".

Es sind Sätze, knallhart wie die neue deutsche Abschiebepraxis: Weil so viele reinkommen, müssen andere raus - und zwar zackig. Der Staat hat keine Zeit mehr für Einzelschicksale. Wo man auch fragt, ob in Weiden, Bamberg, Nürnberg, Regensburg, man findet empörte Flüchtlingshelfer. Viele Flüchtlinge seien Roma, die in ihren Heimatländern ausgegrenzt werden. Eine ethnische Minderheit von einem Tag auf den anderen mit Bussen in ein "Abschiebe-Camp" zu karren, das wecke "ungute Assoziationen", sagt Stephan Dünnwald vom bayerischen Flüchtlingsrat.

Flüchtlingshelferin Ulrike Tontsch aus Bamberg sorgt sich vor allem um die Kinder. Viele von ihnen waren schon fast ein Jahr in der Schule, hatten dort Freunde. Ihr Sitzplatz blieb von einem Tag auf den anderen leer, ihre Mitschüler fragen nach ihnen. Sich verabschieden, noch einmal umarmen? Keine Zeit. Nicht mal die Kinder, deren Schulen vom Balkanzentrum einfach zu erreichen wären, dürfen zurück. Familien aus ganz Bayern umzuverteilen sei "unmenschlich", sagt Christine Kamm von den Grünen. "Und dumm", denn ihre Verfahren könnten "problemlos von den örtlichen Ausländerbehörden geklärt werden."

Der Platz wird für andere Flüchtlinge gebraucht

"Wir sind uns bewusst, dass dadurch Freundschaften auseinandergerissen werden können", heißt es in einem Brief der Regierung an die Schulen, die Aktion sei aber "notwendig", um Platz für "diejenigen zu schaffen, die anzuerkennende Fluchtgründe besitzen".

Und was ist mit Muhamet, dem Epileptiker? Er und seine Familie kommen aus Kosovo. Dort ist die medizinische Versorgung zum Teil so schlecht, dass Muhamet im Falle einer Abschiebung in Lebensgefahr geraten könnte. Es ist nicht nur die Epilepsie, der 14-Jährige ist schwerbehindert, geistig und körperlich, er ist blind, er hört kaum. Sein Vater Rifat U. hat ihn die ganze Flucht über auf dem Arm getragen, sechs Tage lang. Muhamet wog nur noch 13 Kilo. Das war vor eineinhalb Jahren. Inzwischen hat er ein paar Kilo zugenommen, dank Therapie und Medikamenten. "Er wird nicht mehr gesund", sagt Rifat U., "aber er hat keine Schmerzen mehr."

Jemand wie Muhamet soll also ins "Abschiebe-Camp"? Obwohl ihm deutsche Ärzte attestiert haben, "dass eine Abschiebung aus kinderärztlicher Sicht eine Gefährdung" sei. Auf "schwere Krankheitsfälle" werde Rücksicht genommen, heißt es von der Regierung. Muhamet war dann wohl ein Versehen. Genau wie die krebskranke Mutter, die in einem Klinikum im Sterben liegt. Auch sie hat einen Bescheid bekommen.

Und P. aus Nürnberg. Sie ist zwar nicht krank, trotzdem ließ der Brief fast ihr Herz still stehen. P. ist 28, seit 20 Jahren lebt sie in Nürnberg. Sie hat eine Tochter, Victoria, die Serbien nur als Wort kennt. Victoria ist geboren in Nürnberg, sie hat dort den Kindergarten besucht, in diesem Jahr ist sie eingeschult worden. Und nun dieses Schreiben. Balkanzentrum? Für Victoria, die nur Deutsch spricht? Als Elisabeth Schwemmer vom Internationalen Frauencafé Nürnberg das hörte, glaubte sie erst an einen Witz. Dann kam die Wut.

Vor allem über Sätze, in denen es heißt, es liege "im öffentlichen Interesse", Ausländer "mit geringer Bleibewahrscheinlichkeit" zu "konzentrieren". Geringe Bleibewahrscheinlichkeit? "Die Frau ist seit 20 Jahren Nürnbergerin", sagt Schwemmer. Und was heiße da öffentliches Interesse? "Die Schule von Victoria, ihr ehemaliger Kindergarten, die Kirche, das ist auch Öffentlichkeit", sagt sie. Im Moment befindet sich P. im Kirchenasyl. "Aber der Druck auf uns ist sehr groß jetzt", sagt P.

"Wir sind so geschockt"

Sie schickt ihre Tochter aus dem Zimmer und erzählt. Wie sie als Achtjährige als Roma nach Deutschland kam. Die Mutter weg, der Stiefvater verunglückt, Streit mit den Stiefgroßeltern, als Roma nur geduldet in diesem Land. Wie sie aus purer Not zu klauen begann. Wie sie schon mal im Flugzeug saß und abgeschoben werden sollte, ohne Tochter. Und wie sich in den letzten Jahren alles zum Guten wendete: ein Partner, die Aussicht, aus der Gemeinschaftsunterkunft auszuziehen. Und jetzt dieses Schreiben. "Wir sind so geschockt."

Olaf Kuch, Amtsleiter der Nürnberger Ausländerbehörde, sagt, er habe mitunter den Eindruck gehabt, dass P. ihre Tochter notfalls instrumentalisiere, um nicht abgeschoben zu werden. Aber: Dass man daran zweifle, ob sie und ihre Tochter ein Fall fürs Bamberger Balkanzentrum sind, dafür habe er "Verständnis".

Mehr als 400 sind nicht in den Bus gestiegen. Weil sie freiwillig ausreisen, aber auch, weil sie krank sind, behindert oder schwanger. Und trotzdem drohte die Regierung ihnen mit der Polizei? Hörte sie nicht an? Rechtlich ist das seit der jüngsten Verschärfung des Asylrechts möglich. "Problematisch" sei das Schreiben aber immer noch, sagt Rechtsanwalt Franz Auer, der Klage gegen den Brief einreichte. Das Verwaltungsgericht Bayreuth gab ihm recht. Aus einem formalen Grund: Die Regierung von Oberfranken sei für Regensburg und Ansbach, die behördlich zur Oberpfalz gehören, nicht zuständig. "Fragwürdig" sei auch die enge Vollzugsfrist.

Künftig sollen die Flüchtlinge mehr Zeit haben

Viele Flüchtlinge konnten auf die Schnelle keinen Anwalt finden, der für sie Klage einreicht. In Bamberg gibt es auch eine Rechtsberatung. "Eine niederschwellige" Stelle für 816 Flüchtlinge. Die Rechtsantragsstelle, wo Klagen eingereicht werden können, soll täglich nur zwei Stunden geöffnet sein. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth hat der Freistaat Beschwerde eingelegt. Ob die Aktion rechtlich einwandfrei war, muss nun der Verwaltungsgerichtshof in München entscheiden.

Dass hier irgendwas nicht ganz richtig lief, sieht wohl mittlerweile auch die Regierung so. Künftig sollen Flüchtlinge mehr als zwei Tage haben, um ihre Koffer zu packen. Für Rifat U., den Vater des kranken Muhamet, ändert das wenig. "Wer einmal in Bamberg ist", sagt er, "der ist verloren."

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SZ vom 14.12.2015/vewo
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