Flüchtlinge in Bayern:Wenn der Notfall zum Alltag wird

Flüchtlinge in Bayern: Hannah Kreuzer (li.) verbringt ihre Sonntage zurzeit damit, ehrenamtlich in Kulmbach Flüchtlinge zu registrieren.

Hannah Kreuzer (li.) verbringt ihre Sonntage zurzeit damit, ehrenamtlich in Kulmbach Flüchtlinge zu registrieren.

(Foto: Matthias Hoch)

"Das sieht man hier drin anders als am Stammtisch:" In Kulmbach haben Freiwillige des Roten Kreuzes Aufgaben des Staates übernommen. Für Menschen in Not opfern sie seit Wochen ihre Freizeit.

Reportage von Katja Auer, Kulmbach

Noch acht Minuten. Die Stimme aus dem Funkgerät läutet wieder einen Sonntagnachmittag ein, den Frank Wilzok und die anderen nicht daheim bei der Familie, sondern im ehemaligen Postverteilzentrum gegenüber dem Kulmbacher Bahnhof verbringen. Noch eine Zigarette, Mundschutz auf, die blauen Einmalhandschuhe an. Es kommen 91 Flüchtlinge, die registriert, untersucht und versorgt werden müssen. Das machen in Kulmbach die Helfer des Roten Kreuzes. "Es ist schon die Frage, wie lange das ehrenamtlich noch geht", sagt Wilzok. Aber die stellt sich nicht jetzt. Denn jetzt geht es um Menschen.

Der Warteraum ist schnell voll, einer nach dem anderen wird an den Tisch gerufen, wo auch Hannah Kreuzer sitzt. "Is this your first name?", fragt sie einen Mann in runtergetretenen Schuhen. Die Kulmbacher haben ein eigenes Formular entwickelt, das sie elektronisch an die Regierung von Oberfranken weiterleiten. Sie registrieren die Flüchtlinge selber, machen den Behördenjob einfach mit. Geht schneller.

Name, Herkunft, Religion, dann ein Foto und ein gelbes Bändchen an das Handgelenk. Das sieht nach All-inklusive aus. "Feiern ohne Punkt und Koma", steht tatsächlich drauf, da geht es eigentlich um ein Anti-Drogen-Projekt. Die Bändchen waren übrig im Landratsamt, die Flüchtlingshelfer haben sie kurzerhand umfunktioniert.

"Das sind Menschen in Not", sagt Hannah Kreuzer, 19, und nimmt ganz kurz den Mundschutz ab. Die angehende Industriekauffrau zuckt mit den Schultern, sie klingt sehr selbstverständlich. Viel Aufhebens macht hier niemand um sein Ehrenamt. Ihr Bruder sitzt auch am Registrier-Tisch, die Mutter hilft bei der ärztlichen Untersuchung. Der Landrat kommt vorbei, sagt danke, dass auch diesmal so viele da sind. Obwohl in Stadtsteinach Kerwa ist.

Immer dann, wenn wieder ein Erstaufnahmelager voll ist, wenn sie in Passau oder München nicht mehr wissen, wo sie all die Menschen auf die Schnelle unterbringen sollen, greift der Notfallplan, der eigentlich für den Winter gedacht war. Jetzt gehört er zum Alltag, es herrscht fast immer Notfall. Die Kommunen werden dann kurzfristig informiert, dass ein Bus voller Flüchtlinge kommen wird. Oder zwei. In Kulmbach kriegen die Helfer eine Nachricht aufs das Handy, dass sie ein paar Stunden später anrücken sollen. Bitteschön. Gegen Mittag ist das am Sonntag. Um 15 Uhr stehen fast 50 Helfer bereit.

"My friend, can you help me", sagt Franz Wilzok zu einem etwa zehnjährigen Jungen und legt ihm den Arm um die Schulter. Wilzok ist eigentlich Krankenpfleger im Kulmbacher Klinikum und übernimmt ehrenamtlich die medizinische Untersuchung der Neuankömmlinge. Das Gesundheitsamt hat ihm dafür eine Ausnahmegenehmigung erteilt, die Ärzte reichen längst nicht mehr. Der Bub soll dolmetschen, sein Onkel spricht kein Englisch. Der Junge strahlt und hebt den Daumen.

Wilzok, 45, ist ein unkomplizierter Typ, der Mundschutz verdeckt sein Lächeln nicht. Er klatscht einen anderen Buben ab. So fröhlich wie möglich geht es zu. Drei Fälle von Krätze hat er an diesem Sonntag, die Patienten werden von Helfern in Schutzanzügen von oben bis unten eingecremt und über Nacht isoliert. Dann sollten die Milben abgetötet sein, die die Hautkrankheit auslösen.

Ein Junge mit Läusen ist auch dabei, wie fast jedes Mal. "Läuse hüpfen nicht", sagt Wilzok, keine Gefahr für die Helfer. Er sieht schlimme Dinge. Wie die Brandverletzungen der Frau, die erzählt, sie sei auf der Flucht mit Benzin übergossen und angezündet worden. Und dann die Kriegsverletzungen. Wilzok ist seit 30 Jahren beim Roten Kreuz, er spricht von seinem humanitären Auftrag. "Das sieht man hier drin anders als am Stammtisch." Er weiß, was geredet wird, Wilzok ist dritter Bürgermeister in Kulmbach. Und bei der CSU. Forderungen wie von seinem Parteichef hört man von ihm allerdings nicht.

Das alte Postgebäude ist ein Glücksfall für den Landkreis. Eigentlich sollte es zur BRK-Geschäftsstelle umgebaut werden, das muss nun noch eine Weile warten. Denn als Flüchtlingsunterkunft taugt es weit besser als jede Schulturnhalle.

"Ich brauch' die Nummer 84!", ruft Julia Brückner über den Flur, "who has number 84?" Die junge Frau ist die Chefin im Haus, seit anderthalb Monaten die Koordinatorin der Asylarbeit. Und die Helfer-Animateurin gleich dazu. Jeder bekommt ein Lächeln. "Ich bin gerade in meinem Traumjob", sagt die 26-Jährige, die ihren Master of Laws im Völkerrecht gemacht hat und irgendwann in einem großen Camp im Ausland arbeiten will. "Es läuft gut bei uns", sagt sie, 700 Flüchtlinge haben sie in den vergangenen Wochen durch die Notunterkunft geschleust.

Brotzeit, Registrieren, einen Schlafplatz suchen

Vieles wurde perfektioniert, die Formulare, die Bändchen, mehrsprachige Hinweise überall. Zum Übersetzen sind drei Jugendliche gekommen, die selbst erst drei Monate in Oberfranken leben. Sie haben schnell Deutsch gelernt. Kurz vor 16 Uhr stoppt der Doppeldecker-Bus vor der Halle, um 17.17 Uhr sind alle registriert. "Neuer Rekord", sagt Julia Brückner. "Zum Tatort sind wir daheim."

Wer untersucht ist und mit einem roten Bändchen als gesund markiert, wer eine Plastiktüte mit Handtuch, Zahnbürste und Zahnpasta bekommen hat, kann sein Bett suchen. Stockbetten stehen dicht nebeneinander, dazwischen kurven die ersten Kinder auf Bobbycars und Rädern herum. Es ist nur für ein paar Nächte. Dann werden die Menschen weiterverteilt, die meisten in andere Bundesländer.

In Kulmbach bekommen sie erst einmal eine Brotzeit, Semmeln mit Käse und Geflügelwurst, Tomaten, Gurken. In der Küche hilft auch die Ehefrau von Frank Wilzok, die nimmt er inzwischen mit zu seinen freiwilligen Einsätzen. "Damit wir uns wenigstens am Sonntag sehen", sagt er. Nächsten Sonntag würden sie mal einen Spaziergang machen, sagt er jeden Sonntagabend zu ihr. Und dann kommt doch wieder ein Bus.

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