Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Bayern:Panik im Spielzimmer

Lesezeit: 3 min

Von Dietrich Mittler, Beilngries

Gabi Schüller, Erzieherin in einer Kindertagesstätte, weiß bis heute nicht, welche Schreckensbilder da im Kopf der vierjährigen Kianga (Namen geändert) auftauchten. Von einer Sekunde zur nächsten riss sich das Flüchtlingskind die Schuhe von den Füßen, schleuderte sie von sich weg. Manchmal erstarrte Kiangas Körper, ihre Hand wies auf eine Stelle an der Wand.

Aus dem Blickwinkel der Erwachsenen war da nichts zu sehen außer einer weißen Wand. Das Mädchen aus Afrika aber blickte offenbar auf etwas unbeschreiblich Furchtbares. Schüller wusste nicht recht mit den Panik-Attacken des Kindes umzugehen, ihr wurde klar, dass sie eine Schulung braucht. Eines Tages erfuhr sie von der Fortbildung "Traumatisierte Flüchtlingskinder in der Kindertagesstätte", die das Bayerische Rote Kreuz (BRK) derzeit noch für Erzieherinnen anbietet. Und das dank einer 60 000-Euro-Spende der Röchling Stiftung sogar kostenlos.

"Vor allem Kinder leiden unter den Auswirkungen der Flucht", sagt Hermine Brenauer, die in der BRK-Landesgeschäftsstelle für den Bereich Kindertageseinrichtungen zuständig ist. In ihren Heimatländern, so betont Brenauer, hätten die Buben und Mädchen "oft Not, Gewalt und Krieg erfahren". Das Fachpersonal in den Horten und Tagesstätten stehe vor gewaltigen Herausforderungen.

Gabi Schüller fühlte sich von der Kursbeschreibung angesprochen. Vieles erinnerte sie an ihre Erlebnisse mit Kianga. Die Vierjährige sprach kein Wort deutsch. "Weinen, Herzrasen, Schreien", das waren die Anzeichen dafür, dass mit Kianga etwas nicht stimmte. "Komplett anders als die anderen Kinder", so beschreibt die Erzieherin das Mädchen. Und für sie das Schockierendste: Kianga spielte nicht.

Heute weiß die junge Erzieherin, dass dieses Flüchtlingskind offenbar traumatisiert war. Wie es Kianga jetzt geht, das wird Gabi Schüller wohl nie erfahren. "Von heute auf morgen war sie weg!", sagt sie. Wo sie nun ist, weiß niemand. Nun war es plötzlich Schüller selbst, die "einen großen Schock" verkraften musste: "Gerade diese Kinder wachsen einem ja ans Herz", sagt sie und fügt hinzu: "Wir hatten zwar die Information, dass die Familie abgeschoben wird, aber man weiß nie, was die Eltern einem erzählen."

Im Kreis der Kolleginnen - angeleitet von der Münchner Sozialpädagogin und Traumafachberaterin Marlene Biberacher - hatte Gabi Schüller Gelegenheit, über das zu sprechen, was ihr nahe geht. So auch über ihre Wut: "Die Politik stellt sich alles so einfach vor", sagt sie. Wenn sich in der Kita-Gruppe plötzlich ein Kind als traumatisiert herausstelle, entspreche der Personalschlüssel schlicht nicht mehr den Anforderungen.

Das Sozialministerium indes meint, die Einrichtungen würden bereits jetzt großzügig unterstützt: "Wenn eine Kita ein Flüchtlingskind aufnimmt, erhält sie eine um 30 Prozent höhere Förderung - wie für jedes Kind, dessen Eltern beide nichtdeutschsprachiger Herkunft sind." Zusätzlich würden den Kommunen in einem Sonderprogramm sechs Millionen Euro zur Verfügung gestellt - für zusätzliche Ausgaben, die bei der Aufnahme von Flüchtlingskindern entstehen. Hinzu kämen sogenannte Qualitätsbegleiter, die inzwischen bereits mehr als 1000 Einrichtungen besucht und beraten hätten.

Wie man Kinder aus der Schockstarre holt

Gabi Schüller hat von all dem noch nichts gemerkt. "Dann stehen wir da zu zweit mit 25 Buben und Mädchen und haben ein Kind, das gerade halluziniert und Panikattacken hat. Wie soll ich denn damit umgehen?", fragt sie. Gut, dass bereits im ersten Modul des Kurses auf das Thema "Psychohygiene und Selbstfürsorge" eingegangen wird. Schüller sitzt nun mittlerweile im Abschluss-Modul. In zwei Stunden wird sie ihr Zertifikat in den Händen halten.

Kursleiterin Marlene Biberacher geht mit den Teilnehmerinnen noch einmal alle zentralen Botschaften durch. "Man muss unglaublich viel Geduld haben", sagt sie. Im Krisenfall dürften sich die Erzieherinnen und Erzieher nie allein auf die heilende Kraft des Wortes verlassen. "Wir müssen versuchen, die Kinder über alle Sinneseinwirkungen zu erreichen", sagt Biberacher und erklärt auch gleich, warum sie das hervorhebt: "Während einer traumabedingten Krise kann im Extremfall beim Kind das Sprachzentrum im Gehirn stark eingeschränkt sein."

Schüller hat bei Kianga wohl instinktiv richtig gehandelt: "Ich konnte sie nur über Körperkontakt erreichen", sagt sie. Bei unvorbereiteten Erzieherinnen, so zeigt der Kurs, kann sich im Berufsalltag geradezu der Boden auftun, wenn eines der Kinder traumabedingt erstarrt oder ausrastet. Biberacher klärt über die Hintergründe auf: "In den Gefahrensituationen, die diese Kinder miterleben mussten, war ihr Erstarren für das Überleben notwendig - im Sinne von: Wenn du dich rührst, ist dein Leben bedroht."

Kinder, so sagt Biberacher, lebten in einer Welt der Magie. Das erleichtere es, sie aus dem Teufelskreis des Traumas heraustreten zu lassen. Buben und Mädchen liebten es gleichermaßen, mit den Augen einer Schnee-Eule von hoch oben auf die Welt herabzublicken. Auch eine imaginäre Schatzkiste sei hilfreich, in der das Kind seine schönen Erinnerungen an die verlorene Heimat aufbewahren könne - dem Zugriff der bösen Mächte entzogen.

Am Ende des Kurses stellt Marlene Biberacher eines klar: Das Gelernte ersetze nicht die Arbeit von geschulten Therapeuten. Und auch das müsse gesagt werden: "Nicht allein Flüchtlingskinder sind durch Traumata belastet, sondern auch Buben und Mädchen ohne Migrationshintergrund." Das BRK-Angebot werden allerdings nicht mehr viele Erzieherinnen wahrnehmen können. Einige Plätze in den kommenden Kursen sind derzeit noch frei, dann sind die Stiftungsmittel aufgebraucht. Gabi Schüller indes hat es geschafft. Sie hält ihr Abschlusszertifikat in den Händen. Das Erlernte wird zwar Kianga nicht mehr helfen können - wohl aber vielen Kindern nach ihr.

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Quelle:
SZ vom 22.12.2016
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