Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Gute Noten schützen nicht vor Abschiebung

  • Immer häufiger werden junge Flüchtlinge abgeschoben, die an einer Berufsschule lernen und eine Ausbildung machen.
  • Viele Schüler, Lehrer, Direktoren fragen sich, ob das noch was bringt: sich anstrengen, wenn die Leistung eh nichts zählt.
  • Die zweijährigen Integrationsklassen an Berufsschulen (BIK) wurden 2013 eingerichtet - die sollten die Integration vorantreiben.

Von Andreas Glas und Anna Günther

Die Flure sind leer, die Klassenzimmer zu, es sind Ferien an der Straubinger Berufsschule. Wenn es am Montag wieder losgeht, könnten trotzdem Stühle frei bleiben, könnte wieder einer fehlen. "Die Schüler nehmen jemanden mit ihrem Herzen auf, und dann sollst du als Lehrer sagen: Okay, jetzt ist er abgeschoben, wir verdrücken paar Tränchen, aber dann machen wir weiter auf Seite 75, Aufgabe drei", sagt Berufsschullehrerin Sabrina Hingel.

An Bayerns Berufsschulen macht sich Frust breit. Viele Schüler, Lehrer, Direktoren fragen sich, ob das noch was bringt: sich anstrengen, wenn die Leistung eh nichts zählt. Neulich, in Nürnberg, hat sich der Frust entladen. Als die Polizei in eine Berufsschule marschierte, um einen Afghanen in das Land abzuschieben, in dem eine Bombe gerade 160 Menschen getötet hatte. Immer noch ist unklar, ob der Schüler kriminell ist, wie die Polizei sagt. Oder, wie seine Mitschüler sagen: ein Beispiel für Integration. Die Demonstranten warfen mit Flaschen und Fahrrädern, um die Abschiebung zu blockieren, die Polizisten hantierten mit Pfefferspray und Schlagstöcken.

Was läuft da schief im Bildungsland Bayern? Keine zwei Jahre ist es her, da galt die Schule als Lösungsort für die sogenannte Flüchtlingskrise, nicht als Ort der Probleme. Schulminister Ludwig Spaenle (CSU) erzählt bis heute, dass sogar der Flüchtlingsrat den anderen Ländern riet, doch bitteschön die bayerische Lösung zu kopieren. Er erzählt dann auch, dass Asylbewerber in Bayern bis 21 lernen dürfen. Anderswo ist mit 18 Jahren Schluss.

Entwickelt wurden die zweijährigen Integrationsklassen an Berufsschulen (BIK) bereits 2013: Sprachunterricht im ersten, zusätzlich Berufsorientierung im zweiten Jahr. Mehr als die Hälfte des ersten Jahrgangs fand sofort danach eine Lehrstelle. Also investierte der Freistaat 160 Millionen Euro und mehr als 1000 Stellen in die Integrationsklassen an Grund-, Mittel und Berufsschulen.

Und jetzt? Frust, Flaschen, Pfefferspray. Der Weg zur Schule führt direkt in den Schlamassel der Integrations- und Abschiebepolitik. Lernen darf, wer mindestens drei Monate in Bayern lebt. Die Bleibeperspektive spielt keine Rolle. Von der Schule profitierten sie ja auch in ihrer Heimat, haben Politiker immer gesagt. Aber die Flüchtlinge hörten etwas anderes: Wer fleißig ist, hat in Deutschland Perspektive. "Wer dauerhaft hierbleiben will, muss sich anstrengen", sagte auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) Anfang 2016.

Das Bleiberecht ist nur auf Zeit

Ayan Wahidi, 19, ist so einer, der sich anstrengt. Nach acht Monaten hatte er eine Lehrstelle als Friseur. "In der Praxis ist er einer der besten", sagt Sabrina Hingel. In der Theorie brauche er noch Hilfe, die Fachausdrücke sind das Problem. "Er war 15, als die Eltern umkamen, jetzt hat er niemanden mehr." Schon in Afghanistan jobbte er als Friseur, sein Traumberuf, sagt er.

Seine Haare trägt er oben lang, vorne blondiert, seitlich raspelkurz. "Die Ausbildung ist ganz wichtig, deshalb darf ich bleiben", sagt Wahidi. Im Sommer 2016 bekam er eine Arbeitserlaubnis, durfte einen Lehrvertrag unterschreiben. Für ihn gilt die 3+2-Regel: Während der Lehre und zwei Jahre danach darf er nicht abgeschoben werden. "Jetzt bekäme er wohl keine Arbeitserlaubnis mehr", sagt Hingel.

Glück gehabt. Und trotzdem: Es ist ein Bleiberecht auf Zeit. Angst kriecht in ihm hoch, wenn die Polizei nachts wieder jemanden aus der Unterkunft holt.

Mit der Zeit kam die Ernüchterung

Keine zwei Jahre ist es also her, da hofften Asylbewerber auf eine Zukunft, die bayerische Wirtschaft auf Arbeiter in Zeiten des Fachkräftemangels - und junge Gymnasiallehrer auf Beamtenjobs, die sie ohne Umschulung zum Berufsschullehrer nicht bekommen hätten. Mit der Zeit kam die Ernüchterung: Wie im ersten BIK-Jahrgang mit 1100 Schülern wird es nicht laufen.

2015 kamen Zehntausende nach Bayern. 21 000 Flüchtlinge lernen gerade an 250 Berufsschulen. "Alle glauben, die sind integriert, aber die Arbeit geht erst los. Jetzt müssen sie Ausbildungsplätze finden", sagt Jürgen Wunderlich, Chef des Berufsschullehrerverbands. Wenn 15 Prozent eine Lehrstelle finden, sei das gut. Wirtschaft und Politik hatten auf ein Drittel gehofft. Die meisten Flüchtlinge müssten eher drei, vier Jahre lernen - und wollen endlich Geld verdienen. Das frustriert.

An Wunderlichs Schulzentrum in Neusäß bei Augsburg lernen 2400 Flüchtlinge. Euphorisch sei die Stimmung nicht, sagt er. Bisher sei noch kein Schüler abgeholt worden, "aber wir müssen damit rechnen, dass uns so etwas auch noch blüht".

Jennifer Schluck, 31, war unter den ersten Gymnasiallehrern, die für die Integrationsklassen umschulten. Sie ist stolz, in den Neusäßer BIK zu unterrichten, erzählt von Schülern, die Dankesbriefe schreiben und nicht erwarten können, nach den Ferien wieder zu lernen. "Natürlich macht es mir Angst, nicht zu wissen, wer dann noch da ist."

Der erste, den es traf, ein lebensfroher Afrikaner, tauchte ab. "Wir haben alles versucht, er ging nicht ans Handy, die Klasse hat Briefe geschrieben und SMS. Das hat alle mitgenommen", sagt sie. "Damals hielten die Schüler das noch für eine Ausnahme." Jetzt wartet ein Drittel auf den Abschiebeflieger. Die Klasse trauere und verdränge den Gedanken daran.

In Straubing erzählt auch Cinzia Hundt, 31, viel Positives. Aber in letzter Zeit werde die Stimmung schlechter, vor allem in den Klassen mit Schülern, die schon länger da sind. "Dort ist es schwerer, weil sie frustriert sind und keine Lust mehr haben. Ich will nicht wissen, was sie über mich sagen, wenn sie arabisch miteinander sprechen." Anders sei das bei den Sprachneulingen im ersten Jahr, vielleicht auch weil Mädchen in der Klasse sind. "Leider gibt es ein paar Wenige, die alles vergiften", sagt Hundt.

Unruhestifter würde Schulleiter Johann Dilger, 61, gern vom Unterricht ausschließen. "Das ist keine Lösung, aber wir haben kein Mittel gegen Störer." Die Erwartungshaltung sei anfangs zu groß gewesen, "das ist in zwei Jahren nicht zu schaffen, und die Last kann nicht allein auf den Berufsschulen liegen", sagt Dilger. Immer öfter klagten Kollegen über Bedrohungen. "Die packen es bald nicht mehr", sagt Dilger. "Wenn wir ein Leistungssystem hätten, wäre Ruhe." Wer sich nicht anstrengt, müsse gehen. Asylrecht gegen Leistung?

Zehn Minuten Fußweg von der Straubinger Berufsschule entfernt, in der Wirtschaftsschule Pindl, sitzt Jawad Mehrabi, 18, Polohemd, Streichholzarme. Der Afghane spricht fehlerfrei Deutsch, die Berufsschule hat er mit 1,3 gemacht, den Quali mit 2,8, dazu Praktika: als Metallbauer, bei Netto. Drei Firmen hätten ihn in die Lehre genommen.

Gute Noten interessieren die Behörden nicht

Doch Mehrabi wollte sich weiter anstrengen, er träumt von einer Banklehre, dafür braucht er die Mittlere Reife. Seit neun Monaten geht er auf die Wirtschaftsschule; die 500 Euro Schulgeld zahlt eine private Spenderin. "Ich dachte, das ist der richtige Weg. Es gibt ja keinen besseren Weg als Lernen."

Heute weiß er, dass die Behörden nicht interessiert, ob er lernen will. Im April kam der Abschiebebescheid. Seitdem liegt er nachts wach und ärgert sich, damals nirgends zugesagt zu haben. Dann würde die 3+2-Regel greifen, immerhin. So aber droht die Abschiebung. Pech gehabt.

Ein Schlag ins Gesicht derer, die sich bemühen

"Wir erfüllen alle Kriterien, bemühen uns um Integration, und dann kommt so ein Schlag", sagt Martin Stautner, zweiter Direktor der Wirtschaftsschule. Auch ihn ernüchtert Mehrabis Abschiebebescheid, die Schule fühlt sich um ihre Integrationsarbeit gebracht. Dass Mehrabi abgeschoben werden könnte, sei bei den Lehrern "nicht in den Köpfen drin" gewesen, schon wegen der guten Noten nicht, sagt Direktor Reinhard Schmidt. Er findet: "So einen Schüler kann man sich nur wünschen."

Gute Noten? Egal, findet die Ausländerbehörde. Und will, dass Mehrabi das Land verlässt. Seine Lehrer wollen bei der Härtefallkommission für ihn kämpfen. Auch Mehrabi kämpft. Er klagt gegen die Abschiebung, will sich für eine Lehre bewerben, macht ein Praktikum bei der Sparkasse. Ob die Behörde ihn die Lehre machen lassen würde? Eher nicht. Trotzdem, "die Ausbildung ist meine einzige Chance", sagt Jawad Mehrabi. Er wird weitermachen, sich anstrengen. Ein Jahr dauert die Schule noch - wenn die Abschiebung nicht dazwischen kommt. Sonst könnte bald auch sein Stuhl leer bleiben.

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SZ vom 13.06.2017/vewo
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