Flüchtlinge:Gemüse und Gemoser

Augsburg: Essensausgabe Augsburger Tafel

Essensausgabe Augsburger Tafel

(Foto: Johannes Simon)

An den Tafeln bekommen Arme in Deutschland Lebensmittel, die in Supermärkten nicht mehr verkauft werden können. Was geschieht, wenn dort immer mehr Flüchtlinge auftauchen?

Reportage von Nadia Pantel

Die Dame an der Joghurtkiste verliert die Nerven. Sie sichert mit beiden Händen einen kleinen Eimer Vanillequark und verweigert so laut die weitere Ausgabe von Milchprodukten, dass jeder der gut 80 Anwesenden sie hören kann: "Sie sind allein! Sie haben keine Kinder! Sie kriegen jetzt nichts mehr!" Vor ihr murmelt eine Frau eine Entschuldigung und bereut die Frage nach einem Dritt-Joghurt.‬

In einem normalen Supermarkt müssen sich Kunden nicht ihren Familienstand ins Gesicht schreien lassen. In einem normalen Supermarkt müssen die Mitarbeiter aber auch keine Sorge haben, dass am Ende nicht genug für alle da ist. Die Joghurt-Dame zeigt auf die Menschen, die so dicht hintereinander stehen, dass sie einander versehentlich die Einkaufstrolleys in die Kniekehlen rammen. "Was soll ich denn machen", sagt sie leise, eher in Richtung Joghurts als zu den Trolley-Menschen. ‬

Es ist eine Woche vor Weihnachten in einem Industriegebiet am Rand von Augsburg. Hier ist die Ausgabestelle der Augsburger Tafel. Wer nachweist, dass er im Monat, nach Abzug der Miete, mit weniger als 400 Euro auskommen muss, kann sich hier Lebensmittel abholen. Solche, die in Supermärkten nicht mehr verkauft werden. An den Fenstern der Tafel kleben selbstgemalte Gemüse-Bilder. Ein lachender Porree, ein Brokkoli, der sich am Kopf kratzt. In den Kisten der Tafel ist der Salat müde, die Auberginen sind angeschlagen, die Bananen eher braun als gelb. ‬

Kritik um die Almosen-Ideologie wird leise

Die Tafeln empören sich nicht über die Wegwerfgesellschaft, sie haben in ihr ihre Nische gefunden. Es ist ein System, das die einen zu den Resteverwertern der anderen macht. In den vergangenen Jahren wurden die Tafeln für ihre Almosen-Ideologie oft angegriffen, doch in diesen Wochen ist die Kritik stiller geworden. Ohne Almosen funktioniert in Deutschland gerade wenig. Zwischen 40 und 50 Neuanmeldungen nimmt die Tafel Augsburg zurzeit in der Woche an, im vergangenen Jahr waren es im Schnitt nur 30. Die meisten der Neuen sind Syrer, Afghanen und Iraker. ‬

Frau Meier rollt auf ihrem Bürostuhl zwischen Drucker und Laminiergerät hin und her. Seit drei Stunden stellt sie neue Kundenausweise aus. Und seit drei Stunden versteht kaum jemand, was sie sagt. Es gibt viele Orte, an denen man ignorieren kann, dass Deutschland in diesem Jahr 900 000 Geflüchtete aufgenommen hat. Die Augsburger Tafel gehört nicht dazu. "Wie viele Kinder haben Sie denn?", fragt Frau Meier und schiebt sich ihre Lesebrille in die langen, grauen Haare. Die Frau, die ihr gegenüber sitzt, lächelt und nickt. "Na denn", sagt Frau Meier, "Das wird sich finden." Sie streicht die Formulare glatt, die die Frau ihr auf den Schreibtisch gelegt hat. Frau Meier zählt drei Kinderfotos und zwei Erwachsenenfotos.‬

Kein Essen mehr an Flüchtlinge verteilen

Die Zahl, die sie nun auf den Ausweis schreibt, entscheidet über die Anzahl der Joghurts. "Passt Ihnen Donnerstag?", fragt Frau Meier. Die Frau lächelt und nickt, Frau Meier kreiselt auf einem Infoblatt Abholtag Donnerstag ein, Gruppe eins, 13 bis 14 Uhr. Dann gibt sie der Frau einen Zettel, auf dem auf Arabisch die Grundregeln der Tafel erklärt werden: Jeder Besuch kostet einen Euro, Einkaufstüten selber mitbringen, wer keine Kinder hat, darf nur alle zwei Wochen kommen, Essen ist auch dann noch gut, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten wurde. "Danke", sagt die Frau. "Der Nächste, bitte", sagt Frau Meier. ‬

Nach zehn Neuaufnahmen braucht Frau Meier eine Zigarette und einen Kaffee. Ja, das seien jetzt schon viele, sagt sie. Einige Tafeln in Deutschland haben in diesem Herbst verkündet, dass sie kein Essen an Flüchtlinge verteilen, weil sie dafür keine Kapazitäten hätten. Und überhaupt, was soll man den Geflüchteten schon anbieten? "Die wollen Couscous und Kichererbsen", sagte die Leiterin der Dachauer Tafel, als sie gefragt wurde, weshalb sie keine Asylbewerber versorge. ‬

Frau Meier klopft eine zweite HB aus der Schachtel und stützt sich auf das Geländer der Laderampe. Vom Parkplatz kriecht feuchte Kälte herüber, Frau Meier hat über ihren knallroten Pullover eine bunt-rot gemusterte Strickjacke angezogen. Auch ohne den Pullover wäre sie schwer zu übersehen zwischen den zarten Damen an den Essenskisten. Frau Meier macht Scherze mit den Lagerhelfern, die sich um die angelieferten Supermarktreste kümmern. Es stapelt sich deutlich Abwegigeres als Couscous und Kichererbsen. Salat aus der Dose, zum Beispiel. Gepresstes Krebsfleisch mit Muschelstückchen. Ein Adventskalender mit Katzenfutter hinter den Türchen. Dinge, die Supermarkt-Logistiker an ihren tollkühnsten Tagen auf die Sortimentsliste gesetzt haben. Was der Tafel am häufigsten fehlt, sind Gemüse und Obst. ‬

Mehr Menschen, weniger Waren

Grundsätzlich gilt an den Tafeln in diesen Tagen: Die Menschen, die Waren brauchen, werden mehr; die Waren, die geliefert werden, weniger. Frau Meier will deshalb umverteilen: "Lieber kriegen alle weniger als manche gar nichts." Und wer auf einen Asylbescheid warte, habe schließlich noch weniger Geld zur Verfügung als ein Hartz-IV-Empfänger. "Natürlich gibt's jetzt immer welche, die glauben, dass sie zu kurz kommen." Doch Frau Meier will "kein Gemoser" hören. Sie selber mosert schließlich auch nicht. ‬

Dass Frau Meier ihren Vornamen nicht sagen will, liegt daran, dass sie selbst seit zehn Jahren keinen Job mehr hat. Sie ist jetzt 57 und glaubt nicht mehr daran, noch mal irgendwo eingestellt zu werden. "Meine Nachbarn müssen aber nicht unbedingt wissen, dass ich von Arbeitslosengeld lebe", sagt Frau Meier. Zur Tafel geht sie fünfmal die Woche. Kundenkartei pflegen, Buchhaltung, Helfer koordinieren. Sie macht das unbezahlt. Zu Hause herumzusitzen hält sie nicht aus. ‬

"Helft zuerst den Deutschen"

Bei der Augsburger Tafel arbeiten vor allem Rentner und Arbeitslose. Sie kennen das Gefühl, "auf dem Abstellgleis zu stehen", wie einer der Lager-Packer es nennt. Und es ist genau dieses Gefühl, das Frau Meier denen, die sie Kunden nennt, so gut es geht ersparen will. Und zwar allen, auch den neuen.

923 Tafeln

gibt es derzeit in Deutschland, mit zusammen mehr als 3000 Ausgabestellen. Mehr als die Hälfte der Tafeln werden von gemeinnützigen Organisationen wie Caritas oder Diakonie getragen, der Rest sind eingetragene Vereine. Alle Mitarbeiter der Tafeln arbeiten ehrenamtlich. Etwa 60 000 freiwillige Helfer machen mit. Insgesamt unterstützen die Tafeln derzeit bis zu 1,5 Millionen bedürftige Menschen, davon aktuell bis zu 200 000 Geflüchtete. Wegen der vielen Neuanmeldungen forderten die Tafeln vor ein paar Wochen erstmals eine temporäre finanzielle Unterstützung vom Staat, um den stark erhöhten Einsatz der Ehrenamtlichen etwas abzufedern.

Manche ihrer alten Kunden sehen das anders. "Helft zuerst den Deutschen": Das ist das Mantra von der rechten Mitte bis hin zu Pegida. Nur dass arme Deutsche nicht auf die Art deutsch sind, wie Abendlandretter sich das vorstellen.‬

Die Mehrheit von Frau Meiers Kunden ist deutsch und spricht Russisch, Türkisch oder Polnisch. Schon eine halbe Stunde bevor die Ausgabe der Tafel öffnet, stehen die Menschen vor der Tür und warten. Die meisten haben Tafel-Freunde, mit denen sie jede Woche gemeinsam kommen. Ja, sie mache sich viele Sorgen wegen der Neuen, sagt die ältere Dame mit der grau karierten Strickmütze, die mit anderen Mützen-Damen zusammensteht. Sie finde selber kaum einen Job, wie sollten da all die Neuen nun einen Job finden? Ihr Sohn studiert, aber das Bafög reiche nicht. Durch ihre Tafelbesuche spart sie 100 Euro im Monat, die sie ihrem Sohn schickt. Als er klein war, wurde er am Gymnasium gehänselt: "Wir wollen hier keine Russen." Seine Mutter hätte jetzt gerne keine Syrer. ‬

Der Zorn gilt den Syrern

Ein paar Meter weiter sagt ein Mann, ihm sei "schier die Spucke weggeblieben", als auf einmal die Flüchtlinge bei der Tafel gestanden hätten. Ob er denn dadurch weniger abbekommen hätte? "Vor zwei Wochen schon, diese Woche gab es genug." Wie viel Essen die Tafeln ausgeben, das hängt nicht von der Anzahl der Wartenden ab, sondern davon, wie viel Essen die Supermärkte spenden. Trotzdem gilt der Zorn nicht den Supermärkten, sondern den Syrern.

"Wenn es in Deutschland die Tafeln nicht gäbe, dann wären hier schon viel mehr Scheiben zu Bruch gegangen", sagt ein Nebensteher. Ob er glaubt, dass Menschen aus Not zu Rechtsradikalen werden? "Nee, nicht aus Not, aber aus Wut." Auf wen? "Na, auf den Lumpenstaat." Und was haben die Syrer damit zu tun? "An die da oben kommt doch keiner ran, da wendet man sich halt gegen den nächsten Schwächsten." "Ja", sagt sein Freund. "So scheiße ist das System."

Das Fremde aushalten

Deutschland ist reich. Wer hier arm ist, steht immer unter dem Verdacht, selber schuld zu sein. Die Mehrheit schämt sich nicht, dass sie jährlich 18,4 Millionen Tonnen Lebensmittel vergammeln lässt. Die Minderheit schämt sich, dass sie das Wegwerf-Essen nötig hat. ‬

Es ist kein Zufall, dass bei der Tafel auch ohne die neuen Flüchtlinge nur wenige Deutsch ohne Akzent sprechen. Wer nicht in Deutschland geboren ist, hat es schwerer, einen Job zu bekommen, und wer kein Kind mehr ist, tut sich schwer mit der Sprache. Im Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes liest sich das so: Deutsche mit Migrationshintergrund sind zu 26,6 Prozent armutsgefährdet. Sie haben ein Einkommen, das weit unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Bei den Deutschen, die als Kinder deutscher Eltern geboren wurden, müssen "nur" 12,3 Prozent mit einem Minimaleinkommen auskommen. ‬

Bei der Augsburger Tafel lässt sich nun eher eine Art Armutsranking beobachten. Es gibt die Deutschen ohne Migrationshintergrund, die Deutschen mit Migrationshintergrund, die schon lange da sind - und die Neuen. "Mein Sohn will nicht, dass ich zur Tafel gehe, weil da nur Afrikaner und Türken hingehen", sagt eine Frau mit golden verzierter Handtasche. Die Armen, das sind die anderen. ‬

Niemandem geht es besser, wenn wir den anderen beleidigen

An den Tafeln muss gerade gelingen, worüber in Familien, Unternehmen, Universitäten und Parlamentssitzungen bislang nur geredet wird: sich solidarisch zeigen, teilen, das Fremde, Neue aushalten. Integration beim Essen bedeutet hier nicht, dass man sich über afghanische Kochbücher austauscht, sondern dass man wirklich abgibt. Und ja, trotz aller Einwände, das gelingt eigentlich ganz gut.

"Mein Leben verändert sich nicht gravierend dadurch, dass die Flüchtlinge da sind", sagt Eva Sauer. Die zweifache Mutter ist eine der wenigen in der Essensschlange, die ohne zu zögern ihren vollen Namen nennen. Immer gegen Jahresende werden Geld und Jobs bei der 33-Jährigen knapp. Ihre Kinder sind jetzt sieben und neun, sie kann ihnen teure Lego-Wünsche zu Weihnachten nicht mehr ausreden. "All das Star-Wars-Zeug!" Sauer, rote Locken, silberne Totenkopf-Anstecker auf der Mütze, lacht und seufzt. Aber damit hätten die Geflüchteten nichts zu tun. Im Gegenteil: "Die Leute haben ja selbst gute Gründe, warum sie hierherkommen." Was Sauer ärgert, ist das Gefühl, dass die Politiker keinen konkreten Plan haben: "Ich kann mir schon auch vorstellen, dass wir das schaffen. Ich wüsste nur gerne, wie genau."

Die Sorgen und der Unmut bleiben bei der Augsburger Tafel ein Getuschel. Und vielleicht liegt es an Menschen wie Frau Meier, wenn aus Getuschel kein Geschubse wird. Frau Meier, die vor zehn Jahren die Russland-Deutschen als Neukunden verteidigt hat und die jetzt Mitgliedskärtchen an Syrer ausgibt. Frau Meier, die die Richtung vorgibt: Ja, es ist eigentlich untragbar, dass überhaupt jemand hier anstehen muss, aber niemandem von uns geht es besser, wenn wir den anderen beleidigen.

"Nummern, teilen, gut"

Es ist kurz vor Ende der Essensausgabe. Die Regale sind fast leer, aber bislang haben alle volle Tüten herausgetragen. Die Letzten machen noch die Runde von Kiste zu Kiste. Ein Mann mit einem kleinen Jungen an der Hand übt bei jedem neuen Helfer, der ihm Essen in die Hand drückt, sein "Guten Tag, wie geht es Ihnen?". Ansonsten kann er noch "Syrien", "ja", "nein" und "danke" sagen. Den Mann mit den weißen Locken, der bei der Tafel die Wurst verteilt, versteht er trotzdem ohne Probleme. "Schwein?", fragt der Weißhaarige und grunzt. Lachen. "Nein, danke."

Der Weißhaarige holt einen Gouda. Der Mann nimmt seinen Käse, sein Sohn bekommt einen Adventskalender. Seit der 1. Dezember verstrichen ist, gibt es viele davon, nicht nur mit Katzenfutter, auch mit Schokolade. Frau Maier will wissen, ob der Junge das Prinzip Adventskalender verstanden hat. Das Kind zeigt auf den Kalender, dann auf seinen Bruder: "Nummern, teilen, gut." Ja, er hat verstanden.

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