Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge auf dem Auerberg:Abgeschnitten von der Welt

Elf Flüchtlinge aus Syrien landen in einem ehemaligen Jugendhaus auf dem 1000 Meter hohen Auerberg in Oberbayern. Der nächste Ort ist vier Kilometer entfernt, es gibt keinen Laden, kein Fernsehen, kein Internet - dafür einen Nachbarn, vor dem sie Angst haben.

Von Heiner Effern

Malek sitzt am Montagnachmittag verzweifelt im Aufenthaltsraum seiner neuen Unterkunft. Er kann immer noch nicht fassen, wo er gelandet ist. "Hier ist nichts. Kein Mensch, kein Lebensmittelmarkt. Nichts", sagt er. Dafür haben Malek und die zehn anderen Flüchtlinge aus Syrien einen Bauzaun vor der Haustüre. So nah, dass ein breit gebauter Mann durch den Gang zwischen Metallgitter und Haus kaum durchpasst. Man hätte ihnen gesagt, sie dürften nur diesen Weg und die Straße betreten, die Terrasse, die Wiesen rundherum und die Gaststätte seien für sie verboten, sagt Malek. Sieben hätten spontan die Flucht ergriffen. Vergebens, alle sind wieder zurück, obwohl alle das Gleiche fühlen wie Malek. "Hier können wir nicht leben."

Der Auerberg im Landkreis Weilheim-Schongau, seit Ende vergangener Woche der neue Wohnsitz der elf Männer aus Syrien, hat keinen schlechten Ruf. Als Ausflugsziel. Auf dem Berg, auf mehr als 1000 Metern Höhe, liegt eine Gaststätte. Oberhalb steht nur noch die dem Heiligen Georg geweihte Kirche.

Man kann dort auf einen Außenbalkon steigen und die wunderbare Landschaft bestaunen, die ausgedehnten Wiesen und Wälder des Auerbergs, die in Serpentinen sich von Bernbeuren heraufwindende Straße, den im Tal fließenden Lech. Pittoresk für Touristen. Ein Schock für Flüchtlinge.

Angst vor dem einzigen Nachbarn

Sie leben nun im zweiten Haus auf dem Auerberg, einem ehemaligen Ausflugsheim des Landkreises für Jugendliche. Abgeschnitten von der Welt, ohne Radio, Fernsehen oder die Möglichkeit, über Internet Kontakt zu ihren Familien in Syrien aufzunehmen. Und mit einem einzigen Nachbarn, dem alle Grundstücke rundum gehören. Einer aus der Gruppe sagt: "Ich habe Angst vor ihm."

Sieben, sagt Malek, hätten versucht, Ende vergangener Woche sofort jemanden vom Amt zu finden, um eine andere Bleibe zu erbitten. Sie sind wohl zu Fuß die vier Kilometer in den nächsten Ort Bernbeuren gegangen, wo sie dann waren, bleibt wegen des brüchigen Englischs und der noch brüchigeren Ortskenntnisse unklar. Malek sagt, sie wären irgendwann vor einer Polizeistation gestanden und hätten um Hilfe gebeten.

Dort hätte man ihnen kein Gehör geschenkt. Sie hätten dann angekündigt, sie würden vor der Polizei auf der Straße übernachten. Worauf man ihnen gedroht habe, dass man sie in diesem Fall festnehmen werde. Sie hätten schließlich in einem Park übernachtet. "Asylbewerber spurlos vom Auerberg verschwunden" lautete die Schlagzeile der Lokalzeitung.

Aus den Polizeiinspektionen in Schongau, Weilheim und auch in Kaufbeuren ist zu hören, dass niemand etwas über einen Hilferuf der Flüchtlinge wisse, sie niemand gesehen habe. Fest steht aber, dass die Syrer am Freitagnachmittag am zuständigen Landratsamt in Weilheim aufgetaucht sind. Etwa 40 Kilometer vom Auerberg entfernt. Das sagt der Mann, der es wissen muss: Helmut Estermann, Chef der dortigen Ausländerbehörde. Die Männer hätten sich für ihre Flucht entschuldigt und sich bereit erklärt, auf den Auerberg zurückzukehren, sagt er. Dafür habe man Taxis bestellt.

Estermann ist ein erfahrener Mann in der Behörde, er sagt, er arbeite schon seit Anfang der 1990er-Jahre in dem Bereich. Natürlich ist ihm klar, dass eine Flüchtlingsunterkunft vier Kilometer vom nächsten Ort entfernt problematisch ist. Deshalb werde man nun einen Bus-Shuttle von Bernbeuren auf den Auerberg einrichten, sagt er am Dienstagvormittag. Außerdem sei nun auch der Bauzaun weg, man verhandele mit dem Nachbarn, dass er das Betretungsverbot für seine Flächen aufhebe.

"Wir müssen alles nehmen, was zumutbar ist"

Ob er denn nicht trotzdem glaube, dass der Auerberg grundsätzlich der falsche Ort für Flüchtlinge sei? "Wenn Sie eine andere Wohnung wissen, nehme ich die sofort. Es ist nahezu unmöglich, Unterkünfte für Flüchtlinge zu finden. Niemand will etwas hergeben, wir müssen alles nehmen, was zumutbar ist."

Da ergeht es Helmut Estermann nicht anders als seinen Kollegen in ganz Bayern. Der Freistaat ist offensichtlich nicht in der Lage oder gewillt, die steigende Zahl von Flüchtlingen vernünftig unterzubringen. Das beginnt bei überfüllten Aufnahmelagern in München und Zirndorf, zieht sich über die Landkreise hin, die bei jeder geplanten Unterkunft mit einem Volksaufstand wie kürzlich in Traunstein rechnen müssen, und endet in skurrilen Mietverhältnissen wie auf dem Auerberg. Dort wird auf dem Rücken der syrischen Flüchtlinge offenbar auch noch ein Nachbarschaftsstreit ausgetragen.

Das Landratsamt habe ihm absichtlich die Flüchtlinge ins Nachbarhaus gesetzt, sagt Christian Weissinger, Eigentümer der Gaststätte und des gesamten oberen Auerbergs. Man habe sich nämlich nicht über eine Fortsetzung des Mietverhältnisses für die Flächen rund um das frühere Erholungsheim einigen können. Die Terrasse und der von dort ins Haus führende Zugang gehören ihm. Ohne diesen Grund ist das Haus wertlos. Dass er dort den Weg zur Haustüre mit einem Bauzaun abgetrennt habe, beruhe "auf ein paar Missverständnissen". Menschen in Not müsse man natürlich helfen. Er habe nur aus Haftungsgründen die Terrasse gesperrt. Außerdem habe es von ihm nie ein Betretungsverbot für sein Eigentum gegeben, sagt er. "Das Landratsamt spielt mit falschen Karten."

Dazu gehöre auch, dass die Flüchtlinge auf der anderen Seite das Haus verlassen könnten, der Grund gehöre nicht ihm, und die eigentliche Haustüre liege ohnehin dort. Das Amt müsste dafür nur ein neues Schloss einbauen. Am Dienstagnachmittag teilt Weissinger dann mit, dass er nach einem Gespräch nun Flächen vor dem Haus inklusive Terrasse ans Landratsamt verpachten wolle. Man sei auf einem guten Weg.

Die elf Flüchtlinge werden das vielleicht in Kürze bemerken. Wenn sie auf die Terrasse dürfen. Und irgendwann ein Shuttle-Bus vorfährt. Doch es werden bald graue Herbsttage kommen, dann der Winter. Die elf Männer aus Syrien werden viel Zeit auf dem Auerberg haben, über die bayerische Art von Hilfsbereitschaft nachzudenken.

Einige Studenten der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) begleiten die beiden Protestmärsche der Flüchtlinge von Franken nach München, die derzeit stattfinden. Ihr Videomaterial stellen sie unter http://refugeestruggle.org/de/media online.

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SZ vom 28.08.2013/tba
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