Süddeutsche Zeitung

Flucht nach Deutschland:Endstation Bahngleis

Immer wieder finden Bundespolizisten Flüchtlinge auf Güterzügen. Dabei wäre es ihnen am liebsten, niemanden zu entdecken. Unterwegs bei Rosenheim an einem Morgen der Suche.

Von Matthias Köpf, Raubling

Die Lichtkegel streichen träge durch die regenfeuchte Dunkelheit. Planen, Containerwände, Kupplungen ziehen langsam vorbei, bis die Waggons mit einem letzten Ruck ganz zum Stehen kommen und wieder ein paar Zentimeter zurückschwingen, weil die beiden schweren Loks nicht mehr ziehen.

Dafür werden nun die Lichtkegel schneller, streifen Schienen, Schwellen, nassen Schotter, blank polierte Räder. Dann der Funkspruch, alle Oberleitungen sind vom Netz, der Mann von der Bahn hat am Nachbargleis das Erdungskabel auf den Draht gehoben.

Erst jetzt setzen sich die Polizisten in Bewegung, die sich in Vierergruppen am Bahnsteig verteilt haben. Sie schwingen sich auf die Puffer zwischen den Waggons, klettern auf Querstreben, spähen über Dachkanten, zwängen sich unter Waggons.

Hier unten im Gestänge und Gewirr aus rostigem, dreckigem, metallisch stinkendem Stahl treffen sich die Lichtkegel der Taschenlampen, strahlen zurück von der Warnweste des Kollegen auf der anderen Seite des Zugs. Auf schmutzigen Stoff, Turnschuhe, nackte Haut treffen sie diesmal nicht.

Knappe 20 Minuten brauchen die Beamten für den etwa 200 Meter langen Güterzug. Am Ende wieder ein Funkspruch: "Absuche beendet, keine Feststellungen." Dieses Ergebnis ist den Bundespolizisten, die an diesem sehr frühen und sehr regnerischen Morgen im Bahnhof von Raubling bei Rosenheim schon wieder bei einer Güterzugkontrolle im Einsatz sind, das liebste.

Natürlich suchen sie, um zu finden. Deshalb leuchten sie ja auf die schmalen Stege, die den Boden der Containerwaggons bilden, öffnen Container ohne Zollplomben, winden sich in die stählernen Wannen unter den Lkw-Aufliegern, die per Bahn über den Brenner gekommen sind.

Diese Wannen zählen zu den bevorzugten Verstecken der Menschen, die auf diesem Weg nach Deutschland kommen wollen: in einem an die 100 Kilometer pro Stunde schnellen Güterzug, keinen Meter über den Gleisen, keinen Meter von den stählernen Rädern, zwischen dreckigen Zwillingsreifen eines Lkw, die wenigstens vor der ärgsten Zugluft und vielleicht vor oberflächlichen Blicken schützen.

Vor den Blicken der mehr als 30 Bundespolizisten schützen sie nicht, die heute in Raubling im Einsatz sind und bei aller Akribie hoffen, trotzdem möglichst wenige Migranten zwischen den Fahrgestellen hervorziehen zu müssen. Denn die Fahrt ist für die blinden Passagiere lebensgefährlich.

Anfang Juni gab es in Deutschland den ersten Toten, als in der Nähe von Rosenheim ein dunkelhäutiger, vermutlich zwischen 18 und 22 Jahre alter Mann ins Gleisbett fiel und von den folgenden Waggons überrollt wurde.

Anfang Dezember starben in Tirol zwei junge Männer unter Lkw-Aufliegern, als die vom Waggon gefahren wurden. Unklar blieb, ob die Männer da schon bewusstlos oder tot waren, denn unter den fahrenden Zügen ist es eisig kalt, selbst wenn es nicht Winter ist.

Oft sind die blinden Passagiere unterkühlt, zittern, müssen von Polizisten gestützt oder gar getragen werden. Nicht immer reichen die alubeschichteten Rettungsdecken. Zuletzt war auch öfter ein Notarzt im Einsatz hier im Raublinger Bahnhof.

Den haben Bahn und Bundespolizei für ihre Kontrollen auch deswegen ausgewählt, weil es hier hohe Lärmschutzwände gibt. Zwischen diesen gäbe es kaum ein Entkommen, außerdem lassen sich die Neonröhren für die nächtlichen Kontrollen gut montieren. Der Generator dafür ist inzwischen aus, es wird langsam hell.

Die ersten Pendler warten auf ihre Züge, doch wenn der Kontaktbeamte in der Münchner Betriebszentrale der Bahn den nächsten Güterzug ankündigt, wird in Raubling der ganze Bahnhof gesperrt. Langsam bekomme er Ärger mit dem Chef, denn das sei ja nicht das erste Mal, sagt gegen 8 Uhr ein junger Mann, der vor einer guten Stunde schon vergebens auf dem Bahnsteig gewartet hat.

Die Bundespolizei kündigt Schwerpunkt-Kontrollen wie diese inzwischen kurzfristig in lokalen Medien an. Wer das nicht mitbekommt, der weiß spätestens Bescheid, wenn er die Mannschaftswagen parken sieht. Die Anwohner sind genervt vom Lärm des Hubschraubers mit der Wärmebildkamera.

Viele werden schnell wieder nach Österreich gebracht

Auf deren Bildern zeichnen sich die Körper der blinden Passagiere auf den Puffern als helle Konturen zwischen den heiß gerollten Rädern ab. Doch an diesen Tag kann der Hubschrauber wegen des Regens nicht starten, stattdessen schauen Polizisten von einer nahen Brücke auf die Oberseite der Züge.

Die Rosenheimer Bundespolizei kontrolliert immer wieder Güterzüge, seit sie im vergangenen Oktober auf diesen Einreiseweg aufmerksam geworden ist. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres hat sie so 20 Migranten aufgegriffen. Allein im Juli dann waren es rund 100, im August etwa 80, was aber auch mit deutlich intensivierten Kontrollen zu tun hat. Bayernweit wurden im ersten Halbjahr 220 Flüchtlinge auf Güterzügen registriert, im Juli waren es 175.

Viele von ihnen fielen erst am Rangierbahnhof in München auf, als sie von den Zügen kletterten. In den meisten Fällen sind es Afrikaner, am häufigsten aus Nigeria, Eritrea, Guinea und Gambia. Eine Bleibeperspektive haben die wenigsten, viele werden schnell wieder nach Österreich und von dort oft zurück nach Italien gebracht, wo sie schon registriert sind.

Wie viele die Fahrt noch einmal antreten, ist ungewiss. Für manche endet sie wieder in Raubling, für manche vielleicht in Innsbruck oder am Brenner. Dort wollen die Österreicher noch in diesem Herbst eine neue Kontrollstelle einrichten.

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SZ vom 07.09.2017/amm
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