Findelkind von Pöttmes:Christkind, Sorgenkind, Glückskind

Es war der Beginn einer ebenso außergewöhnlichen wie traurigen Geschichte: Heiligabend 2008 wurde ein Neugeborenes in einer Holzkrippe in einer Kirche in Schwaben gefunden, die Lippen waren schon blau. Christian ist nun drei Jahre alt, seine leibliche Mutter wurde gefunden, doch er lebt bei einer Pflegefamilie - und ist schwer behindert. Ein Besuch beim "Christkind von Pöttmes"

Stefan Mayr

An dem Tag, als Christian auf die Welt kam, erschienen zwar keine drei Könige und kein Stern, dafür leuchteten gleich mehrere Kamerateams die Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Pöttmes aus. Vor dem Altar hatte seine Mutter das frischgeborene Baby ausgesetzt - in einer Holzkrippe, in die an Heiligabend eine Jesusfigur aus Holz gelegt wird.

Neugeborenes in Kirche ausgesetzt

In einer Holzkrippe vor dem Altar fand Pfarrer Rein vor drei Jahren den Säugling - zugedeckt mit dem Teppich, auf dem eigentlich die Ministranten knien. (Archivbild von 2008)

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Der hilflose Säugling wurde vom Pfarrer entdeckt - eingewickelt in ein T-Shirt, zugedeckt mit dem Teppich, auf dem eigentlich die Ministranten knien. Es war der Beginn einer ebenso außergewöhnlichen wie traurigen Geschichte, die aus dem Landkreis Aichach-Friedberg um die Welt ging.

Christian, das "Christkind von Pöttmes" ist ein Sorgenkind und Glückskind zugleich. Meist liegt der heute Dreijährige einfach nur da, er kann nicht selbständig sitzen, trinken oder essen. Sein Kopf kippt immer wieder zur Seite oder nach hinten. Wenn seine Pflegemutter ihn in die Arme nimmt, dann lächelt er zufrieden. "Komm, zeig Mama deine Nase", sagt Susanne Wagner (Name geändert). Sobald er seinen Kopf hebt, lobt sie ihn: "Ja, sehr gut machst du das."

"Christian hat es gut", sagt Pfarrer Thomas Rein, der den Säugling vor drei Jahren gefunden hat. Der 2. Dezember 2008 war ein kalter Tag. Pfarrer Rein ging in die Kirche zum Beten, hörte das Baby schreien - und erblickte den Buben in der Holzkrippe. Die Nabelschnur war wenig fachmännisch abgeschnitten, die Lippen waren blau.

Rein nahm das Kind, rannte zur Wohnung und rief den Notarzt. "In der Kirche hat es zwölf Grad", sagt Rein, "nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich erst um halb sieben reingegangen wäre." Aus der wundersamen Weihnachtsgeschichte wäre wohl ein furchtbares Weihnachtsdrama geworden. Was soll nun aus dem Buben werden?, fragte sich Rein, aber auch: Wie verzweifelt muss die Mutter sein, dass sie ihr Kind einfach so ablegt? Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts auf Kindsaussetzung, das Jugendamt suchte eine Pflegefamilie.

Susanne Wagner hörte die Geschichte von dem Pöttmeser Christkind im Autoradio. Die Kinderkrankenschwester hatte zuvor schon mehrere Kinder in Pflege. Sie beschloss sofort, den Buben aufzunehmen. Davon ließ sie sich auch nicht abbringen, als sie erfuhr, dass Christian einen Hirnfehler hat. Er ist geistig behindert und blind, er leidet unter Epilepsie und Neurodermitis.

Die ersten Tage und Nächte mit dem "Christkind" waren die Hölle. "Er hat stundenlang nur geschrien", berichtet Wagner, "er war total verkrampft und verschwitzt, mit rotem Kopf." Der erste Heiligabend in dem Einfamilienhaus im Landkreis Aichach-Friedberg sei eine Katastrophe gewesen: Susanne und Thomas Wagner, heute 60 und 61, sowie ihre erwachsene Tochter wechselten sich beim Tragen und Trösten des Buben ab.

Die Pflegefamilie, die diesen Schritt nie bereut hat, wird von vielen Seiten unterstützt, wird aber auch mit Kritik und Neid konfrontiert: Immer wieder müssen sie sich nachsagen lassen, sie würden Christian nur pflegen, um damit Geld zu kassieren. Ein unberechtigter Vorwurf, wie Pfarrer Rein betont: "Die tun so viel für ihn, das machen andere nicht mal für ihre eigenen Kinder."

"Sein erstes Wort war Nein"

Susanne Wagner sagt: "In drei Jahren hat Christian höchstens zehn Nächte durchgeschlafen." Sie betreut ihn 24 Stunden am Tag und verliert nie ihr Lächeln, auch wenn sie über die anstrengendsten Momente ihres Alltags spricht.

Um ihn möglichst gut zu fördern, kämpft sie sich an jedem Wochentag durch ein Therapie-Programm: Babyschwimmen, Reittherapie, Musikgarten, Krankengymnastik, Blindenfrühförderung. "Akademiker soll er nicht werden", sagt sie, "aber vielleicht kommt er einmal auf die eigenen Füße und kann in einer Behindertenwerkstatt arbeiten."

Allmählich beginnt Christian zu sprechen. "Sein erstes Wort war Nein. Das zweite war Mama, aber das sagt er nur, wenn es brennt, sonst ist das unwichtig", erzählt Susanne Wagner lächelnd. "Er weiß, was er will. Am liebsten Babyschwimmen", erzählt sie. In diesem Moment blickt Christian auf und grinst.

Die leibliche Mutter wurde zwischenzeitlich gefunden, eine Erntehelferin aus Rumänien, die den Buben in einem Auto zur Welt brachte und dann in der Kirche ablegte. Sie hat bereits drei Kinder und lebt in ärmlichsten Verhältnissen. Deshalb sieht sie sich außerstande, Christian großzuziehen. Die Ermittlungen gegen sie wurden eingestellt. Zwei- bis dreimal im Jahr ruft sie an, um nach dem Buben zu fragen.

Pfarrer Rein besucht Christian regelmäßig, an seinen Geburtstagen war er bisher immer da. Er hat ihn getauft und verwaltet das Spendenkonto für ihn. An Heiligabend wird Rein wieder die Jesusfigur in die Krippe vor dem Altar legen. Und dabei an Christian denken. "So ein Erlebnis vergisst man nicht", sagt Rein, auch heute noch sichtlich gerührt, "Christian ist und bleibt mein Findelkind."

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