Familienunternehmen Kersa:Wie Kasperl zu seiner Heimat kam

Familienunternehmen Kersa: Mitarbeiter des Unternehmens arbeiten an einem Holzkopf direkt im Werk.

Mitarbeiter des Unternehmens arbeiten an einem Holzkopf direkt im Werk.

(Foto: Kersa; Bearbeitung SZ)

Die Geschichte um die Handpuppen beginnt vor 95 Jahren im Sudetenland und führt nach dem Krieg nach Mindelheim. Heute ist die Firma der einzige Produzent von Kasperlpuppen.

Von Anna Günther

Dutzende Köpfe liegen herum: Holzköpfe mit braunem Schnurrbart und Knubbelnase, Stoffköpfe mit blauen Augen und Schmunzelmund. In Kisten stapeln sich Teile der Prinzessin mit rosa Spitzenkleid, der kopflose Prinz ruht in den Schachteln daneben. Das Spielwaren-Atelier von Kersa in Mindelheim ist menschenleer. In der Dunkelheit könnte einen leichtes Gruseln befallen, doch die Sonne scheint herein und die körperlosen Gesichter blicken freundlich. Kinder sollen ja später mit ihnen spielen oder gar kuscheln und nicht von ihnen im Traum heimgesucht werden.

Hunderte Handpuppen wandern jedes Jahr aus dieser Halle in die Welt. Kersa ist nach eigenen Angaben deutschlandweit der einzige Produzent von Kasperlpuppen. Bei Kersa entstehen die Spielfiguren seit fast 95 Jahren in Handarbeit, heute macht das Familienunternehmen einen Jahresumsatz im höheren sechsstelligen Bereich. Das Design ändert sich kaum, und dies stellt Günter Schubert, Geschäftsführer und Urenkel der Firmengründerin Wilhelmine Walter, zuweilen vor große Herausforderungen: "Auch die Omas wollen die Puppen wiedererkennen, mit denen sie damals schon gespielt haben, aber die Stoffe sind kaum noch zu bekommen."

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350 Hand- und Fingerpuppen mit Holz- oder Stoffköpfen hat Kersa im Sortiment, jedes Jahr kommen 20 neue dazu und verdrängen andere Modelle. Das Sortiment muss in Bewegung bleiben, findet Schubert. Zu Weihnachten könnten ein Musketier und einige andere Ritterfiguren in den Läden stehen, falls die Figuren sich wie erdacht umsetzen lassen. Und falls die schärfsten Kritiker mit den Ritterpuppen zufrieden sind. Denn bevor eine Kersa-Handpuppe in Serie geht, muss sie zum Vierfach-Check: Die wichtigsten Tester neuer Geschöpfe sind die örtlichen Kindergärten. Wenn die Kleinen und ihre Erzieherinnen die Puppen absegnen, kommt auch noch das Urteil von Müttern und Omas dazu.

Eine Prinzessin aus dem Morgenland im violetten Glitzerkleid samt Schleier hat die Prüfung bestanden, sie steht im Showroom neben Sonne und Mond, einem geschnitzten König Ludwig II. und Sankt Nikolaus. Daneben allein zwölf verschiedene Kasperle - mit geschnitztem oder gedrechseltem Holzkopf und das Original aus Stoff. Das Design dieser Klassiker wird nicht angerührt, die verkaufen sich am besten. "Kasperl, Seppl, Gretl, da kommen die Randfiguren gar nicht hin", sagt Schubert. Auf drei Puppen mit Zipfelmütze kommt eine andere Figur.

Dass seine Lieblingspuppe schon als Kind der Kasperl war, liegt nahe. "Das war immer so lustig, wie der Kasperl Worte verdrehte, und das Krokodil hat für Action gesorgt", sagt der 50-Jährige. Auch seine Tochter Julia spielte mit Handpuppen. Sie war sein Versuchsobjekt und bekam die Neuheiten immer zuerst. Kasperltheater in fünfter Generation. Mittlerweile ist die heute Achtjährige in der Schule, langsam werden andere Dinge spannender. "Aber auf ihren Kindergeburtstagen ist das Puppentheater immer noch ein Highlight, sogar die älteren Kinder fragen danach. Das ist total klasse", sagt Schubert.

Seine Urgroßmutter Wilhelmine Walter bastelte 1925 im Sudetenland für ihre Kinder die ersten Puppen und Plüschtiere aus Stoff. Bald fragten Fachhändler an, das Sortiment wuchs. 1947 wurde die Familie vertrieben, kam nach Mindelheim und blieb. Die Stadt wird heute auch "Heimat des Kasperls" genannt, zur Faschingszeit zieren zwei Puppen, der sogenannte "Durahansl" und die Amme, turmhoch die Mindelheimer Stadttore.

Eine Anfrage aus USA brachte die Firmengründerin in den Fünfzigerjahren auf die Idee, Handspielpuppen zu fertigen. Der Grundstein für Kersa war gelegt. Das Wissen seiner Urgroßmutter aus der Puppenmacherei sei noch heute unentbehrlich, sagt Schubert. Nach dem Tod von Wilhelmine Walter übernahm ihre Tochter Helma Unglert die Firma und weitete das Sortiment aus Stoff und Plüsch aus. Erst 1987 kamen Handpuppen mit Holzköpfen dazu. Heute leitet Schubert die Firma mit seinem Vater Walter, 75, der sich noch immer um die Buchhaltung kümmert.

Doch wer bemalt die Holzköpfe, näht die Kleidchen, bestickt die Gesichter der Stoffpuppen? Das Atelier ist an diesem Tag menschenleer, bis auf eine Dame mit einem dröhnenden Staubsauger. "Es ist ja auch Freitag", sagt der Kersa-Geschäftsführer. Die Angestellten haben frei. Die Arbeitsbedingungen im Spielwaren-Atelier erinnern an eine längst vergessene Welt. Wer zehn Jahre für Kersa arbeitet, gilt als Neuling, die Frauen - 99 Prozent der 70 Mitarbeiter sind weiblich - arbeiten meist von zu Hause aus.

Das habe sich in vielen Jahrzehnten so bewährt, sagt Schubert. "Die Frauen holen sich auf dem Weg zum Supermarkt in Mindelheim ihre Kisten ab und bringen die Puppen beim nächsten Mal wieder mit." Jede entscheidet, wie viel sie produzieren möchte, die zwölf Arbeitsschritte sind mehrfach besetzt. Wenn eine Dame ausfällt, gerät die Produktion nicht ins Stocken. Personalwechsel kennt Schubert kaum, oft malen oder nähen mehrere Generationen einer Familie für das Unternehmen. "Wenn die Oma schon zuverlässig war, gilt das meist auch für die Enkelin", sagt der Geschäftsführer.

Apfelbäckchen gibt es im Airbrush-Raum

2,5 Millionen Stoffteile verarbeiten die Kersa-Mitarbeiter im Jahr. Mit eigens geschmiedeten Formen aus Eisen stanzen Hydraulikpressen den weichen Stoff, aus dem die Näherinnen Gesichter, Kleidchen und Hände fertigen. Nur wenige Arbeiten werden ausschließlich im Atelier durchgeführt, das Stopfen der Puppenköpfe zum Beispiel. "Das können nur zwei Damen", sagt Schubert - eine diffizile Angelegenheit: "Ist der Kopf zu prall, platzt er beim besticken. Ist zu wenig Wolle drin, hängt die Nase." Die Malerinnen zeichnen Gesichter und hauchen den Puppen Leben ein, im Airbrush-Raum bekommen sie Apfelbäckchen. Die Herren dunkler als die Frauen, König Ludwig ist blasser als der Gendarm - es ist eine Wissenschaft für sich. Vier Wochen dauert es, bis eine Handpuppe fertig ist.

Die Holzarbeit übernehmen bei Kersa die Männer. Der Holzbildhauer Sano Geatano beispielsweise gibt den vorgefrästen Puppenköpfen aus Weißbuche Gesichtszüge, schnitzt Hexennasen und tiefe Runzeln, Apfelbäckchen und freche Lachfalten. Die Figuren der Micha-Reihe sind das Premiumprodukt, etwa 53 Euro kostet so eine Handpuppe mit geschnitztem Holzkopf - die Stoffklassiker etwa die Hälfte. Für Holzliebhaber mit kleinen Rabauken gibt es unempfindliche Puppen mit gedrechseltem Kugelkopf. Um die kümmert sich Ernst Zoller. "Ein begnadeter Nasenbohrer, und er wird auch noch dafür bezahlt", sagt Günter Schubert und lacht.

Zollers Job mag lustig klingen, für die Firma ist er immens wichtig: Wo er die Löcher für 16 verschiedene Nasenformen bohrt, ist entscheidend. Jede Holzkugel ist anders, wenn die Nase nicht in der Mitte der Maserung eingepasst wird, scheint die Puppe zu schielen. "Die Augen können perfekt sitzen, das kriegen Sie nicht mehr weg", sagt Schubert.

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