Fall Mollath:Wahn und Wahrheit

Wiederaufnahmeverfahren Gustl Mollath

Die Geschichte von Gustl Mollath und seiner Unterbringung im Maßregelvollzug wird zurzeit vor dem Landgericht Regensburg neu aufgerollt.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Wann ist einer verrückt? Wenn Gutachter das so sagen. Die Geschichte von Gustl Mollath sollte nicht nur die Justiz, sondern auch Psychiater zur Selbstreflexion anregen. Damit möglichst niemand in den Maßregelvollzug kommt, der dort nicht hingehört.

Von Gerrit Hohendorf

Die Geschichte von Gustl Mollath und seiner Unterbringung im Maßregelvollzug wird zurzeit vor dem Landgericht Regensburg neu aufgerollt. Es geht bei dieser Geschichte aber nicht nur um ein Problem der Justiz. Es geht auch um die Psychiatrie selbst, um die Rolle und Unabhängigkeit von psychiatrischen Gutachtern in Strafverfahren und um das Bild der Psychiatrie als Institution und als Profession in der Öffentlichkeit.

Gustl Mollath hatte nach dem Scheitern der Beziehung zu seiner Frau ein Anliegen: Er wollte, dass die Schwarzgeldgeschäfte aufgeklärt werden, die seine Ehefrau und andere Mitarbeiter einer Bank in der Schweiz getätigt hatten. Er nahm sich zu diesem Zweck keinen Rechtsanwalt, sondern vertraute auf selbst verfasste und, vorsichtig gesagt, nicht formvollendete Schriftsätze an die Bank, die Steuerbehörden und die Justiz. So galt er, wie ein interner Vermerk der Steuerfahndung festhielt, als "Spinner". Ermittlungen wegen der Schwarzgeldvorwürfe wurden erst gar nicht aufgenommen, auch wenn sie sich später als weitgehend wahr erwiesen.

2005 kam ein Gutachten für das Nürnberger Landgericht zu dem Schluss, Mollath leide unter einer "wahnhaften Störung". Der Mann sei nicht zurechnungsfähig, befand das Gericht. Er habe die ihm vorgeworfenen Taten - schwere Körperverletzung an seiner Ehefrau, Zerstechen von Autoreifen - im Zustand verminderter oder aufgehobener Einsichts- und Steuerungsfähigkeit begangen. Deshalb sei er fortbestehend gefährlich. Misstrauisch geworden, verweigerte Mollath die Zusammenarbeit mit den Gutachtern und Therapeuten im Maßregelvollzug. Die Folgen sind bekannt: Sieben Jahre musste er dort bleiben. Zuletzt hat auch das Bundesverfassungsgericht dies als unverhältnismäßig angesehen.

Die Psychiatrie und insbesondere die forensische Psychiatrie muss mit einem oft schwer auflösbaren Widerspruch arbeiten: Sie soll zu möglichst objektiven Bewertungen des Erlebens und Verhaltens von Menschen kommen. Sie soll die Gesellschaft und die Betroffenen selbst vor gefährlichen Handlungen schützen. Sie soll schnell Diagnosen stellen, die sich in der Regel erst im eingehenden und Vertrauen voraussetzenden Gespräch mit den Betroffenen erschließen. Und sie hat die Macht, bestimmte Sichtweisen der Wirklichkeit als wahnhaft oder "verrückt" zu erklären.

Alle Menschen haben das Recht, ernst genommen zu werden

Auf der anderen Seite ist die Psychiatrie, wie kaum ein anderes Fach in der Medizin, darauf angewiesen, das Vertrauen derjenigen Menschen zu erlangen, mit denen sie arbeiten soll und muss - oft genug gegen deren Widerstand. Die Geschichte von Gustl Mollath zeigt exemplarisch, wie der Auftrag der Psychiatrie scheitern kann, menschliches Verhalten zu bewerten und zu prognostizieren. Es ist nicht gelungen, dem schwierigen Menschen Mollath unvoreingenommen und vertrauensvoll zu begegnen. Die Konsequenzen für den Betroffenen selbst, aber auch für die Wahrnehmung der Psychiatrie in der Öffentlichkeit sind gravierend. Es ist deshalb an der Zeit, dass nicht nur die Justiz, sondern auch die forensische Psychiatrie Lehren aus dieser Geschichte zieht.

Alle Menschen haben das Recht, in ihren Anliegen ernst genommen zu werden, auch wenn der Eindruck entsteht, sie seien "verrückt" und ihre Wünsche wahnhaft. Sonst geraten psychisch kranke Menschen in gesellschaftliche Isolation. Unverständnis, Ablehnung und Diskriminierung verstärken ihren Rückzug; zunehmend verlieren sie die Fähigkeit, ihre Sicht der Welt zu relativieren. Dass jemand psychisch krank ist, darf nicht quasi automatisch zur Stigmatisierung seiner Person führen. Auch seine Sicht der Dinge hat ihr Recht.

Es darf nicht der Eindruck bestehen bleiben, dass deutsche Gerichte nicht mehr umfassend aufklären wollen, wenn der, der da vor ihnen steht, als psychisch krank gilt. Dies wäre fatal nicht nur für das Bild der Justiz, sondern auch für den Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit psychischen Erkrankungen überhaupt. Dieser Umgang ist schwierig, er erfordert Geduld, Toleranz, Zeit und auch die Fähigkeit, dem Verhalten der Betroffenen angemessene und klare Grenzen zu setzen.

Gutachter muss Betroffenen unvoreingenommen gegenübertreten

Bei Begutachtungen, die psychiatrische Zwangsmaßnahmen und Unterbringungen im Maßregelvollzug betreffen, sollte der Gutachter dem Betroffenen unvoreingenommen gegenübertreten. Er muss sich auf die Lebensgeschichte des Menschen einlassen, der da vor ihm sitzt. Er muss die subjektiven Erfahrungen und die Erlebniswelt des Betroffenen nachvollziehen können. Er muss für eine gewisse Zeit die Akten beiseiteschieben und nur die Person anschauen - anders gewinnt kein Gutachter das notwendige Vertrauen des Betroffenen. Bei Mollaths Geschichte fällt auf, dass der einzige Psychiater, dem ein Gespräch mit ihm gelang, die zuvor gestellte Diagnose einer "wahnhaften Störung" nicht bestätigt fand.

Der Psychiatrie obliegt das zweifelhafte Privileg, bestimmte Formen der Wahrnehmung und des Erlebens der Welt für "verrückt" zu erklären, das heißt: aus der gemeinsamen Verständigung über die Wirklichkeit herausgefallen. Mit der Diagnose eines Wahns sind für den Betroffenen gravierende Konsequenzen verbunden. Gleichwohl lässt sich "Wahn" schwer fassen und im Wesentlichen nur aus der unmittelbaren Kommunikation mit dem Betroffenen heraus erschließen.

Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers nennt als Kriterien des Wahns: die unvergleichliche subjektive Gewissheit einer Überzeugung, die Unbeeinflussbarkeit dieser Überzeugung durch Erfahrung und durch logische Schlussfolgerungen sowie die Unmöglichkeit des Inhalts. Dabei wirft das letzte Kriterium die meisten Fragen auf: Nicht jeder Wahn ist bizarr, mancher klingt sogar beim ersten Hören recht vernünftig. Andererseits können auch bei angeblich psychisch kranken Menschen unwahrscheinlich klingende Behauptungen sich als wahr erweisen. Bei Mollath war dies der Fall.

Daher sollte auch der psychiatrische Gutachter jederzeit unvoreingenommen prüfen und prüfen können, ob das, was der Betroffene berichtet, nicht doch einen Realitätsbezug hat, also schlicht wahr sein könnte. Was der Psychiater von seinen Probanden oder Patienten erwartet, dazu sollte er auch bei seiner eigenen Arbeit bereit sein: die eigene Überzeugung infrage zu stellen - und sei es nur für einen Moment.

So sollte die Geschichte von Gustl Mollath die Psychiater insgesamt zu einer Selbstreflexion ihrer Rolle vor Gericht - und in der Gesellschaft - anregen. Damit möglichst niemand in den Maßregelvollzug kommt, der dort nicht hingehört.

Haar, Bürgerhaus, Vortrag: Gerrit Hohendorf, Der Tod als Erlösung vom Leiden im Nationalsozialismus,

Gerrit Hohendorf, 51, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er lehrt Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München.

(Foto: Angelika Bardehle)
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