Süddeutsche Zeitung

Kriminalität:Fall Kalinka - "Die deutsche Justiz war blind"

André Bamberski entführte den Mann, den er bis heute für den Mörder seiner Tochter Kalinka hält. Ein Kinofilm zeichnet den jahrelangen Kampf des mittlerweile 80-Jährigen nach.

Interview von Isabel Meixner

Es war Selbstjustiz, die ein Justiz- Drama ohnegleichen beendete: Im Oktober 2009, 27 Jahre nach dem Tod seiner Tochter Kalinka, ließ André Bamberski den Mann nach Frankreich entführen, dem er vorwarf, sein Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Es handelte sich um Dieter Krombach, den deutschen Mann seiner Ex-Frau. Ein Pariser Gericht verurteilte den Stiefvater zwei Jahre später zu 15 Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Bewiesen werden konnten Bamberskis Vorwürfe während des Prozesses nicht, der Angeklagte selbst bestreitet sie bis heute. Dennoch glaubt der 80-jährige André Bamberski bis heute fest an eine weiterreichende Schuld Krombachs. Derzeit läuft der Film "Im Namen meiner Tochter" in den Kinos, der den jahrelangen Kampf von Kalinkas Vaters thematisiert.

SZ: Was sagen Sie dazu, dass Ihre Geschichte verfilmt wurde?

André Bamberski: Für mich ist der Film nicht wichtig. Mir war wichtig, dass Dr. Krombach ein vollständiger, gerechter Prozess gemacht wurde. Mein Interesse am Film ist, dass er vor allem die Versäumnisse der Justiz erst in Deutschland und dann in Frankreich zeigt.

Wie war es für Sie, den Film zu sehen?

Ich war relativ zufrieden. Was mir nicht so gut gefallen hat, ist zum Beispiel, dass die Mutter etwa 30 Prozent des Films einnimmt, obwohl sie an den ganzen juristischen Schritten, die ich in Deutschland, Frankreich und Europa machen musste, zwischen 1982 und 2009 nicht teilgenommen hat, ja das sogar abgelehnt hat. Aber das sind wohl Elemente, die eingefügt wurden, damit der Film gut beim Publikum ankommt.

Hat es Sie berührt, sich und Ihre Geschichte zu sehen?

Ich habe die ersten eineinviertel Stunden durchgestanden, ohne zu emotional zu werden. Aber die letzten 15 Minuten war ich sehr berührt und hatte Tränen in den Augen.

Als Ihre Tochter Mitte Juli 1982 tot im Haus ihres Stiefvaters aufgefunden wurde, waren Sie sich sicher, dass Dieter Krombach Kalinka vergewaltigt und getötet hatte. Warum?

Ich war nicht sofort sicher. Ich musste zunächst warten, bis ich von Kalinkas Mutter eine Kopie des Obduktionsberichts erhielt. Sie hat ihn mir erst Ende September geschickt. Bis dahin hatte ich überhaupt keine Details zu den Umständen des Verbrechens an Kalinka.

Was stand denn in dem Obduktionsbericht?

Darin gibt es einige Auffälligkeiten. Es wird erwähnt, dass in Kalinkas Magen etwa die Hälfte des Abendessens - etwa ein halber Liter - noch nicht verdaut war. Es ist also offensichtlich, dass Kalinka am Freitagabend, also am Abend des 9. Juli, gestorben war und nicht, wie Dr. Krombach und der Notarzt es erklärt hatten, um drei oder vier Uhr am Samstagmorgen. Auch gibt es ein paar Punkte, die zeigen, dass Herr Krombach vor allem im Bezug auf den sexuellen Missbrauch gedeckt wurde.

Inwiefern?

Man stelle sich vor, dass auf Anordnung der Staatsanwaltschaft ein Obduktionsbericht für ein fast 15-jähriges Mädchen erstellt wird, ohne dass darin festgehalten wird, ob das Mädchen noch Jungfrau war oder ob es vor dem Tod noch einen sexuellen Kontakt hatte - vor allem vor dem Hintergrund, dass es eine Verletzung an der Vagina gab. Auch war dokumentiert, dass noch nicht einmal ein Vaginalabstrich gemacht wurde. Das sind wirklich unnormale Dinge, die beweisen, dass Herr Krombach gedeckt wurde. Herr Krombach war auch bei der Autopsie anwesend, und nach der Autopsie waren die Geschlechtsorgane von Kalinka verschwunden. Die deutsche Justiz hat niemals nachgeforscht, wo sie verblieben waren.

Hat Ihre Tochter Ihnen jemals angedeutet, dass sie missbraucht wird?

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte mit Kalinka zu der Zeit, als sie in Lindau war, praktisch täglich Kontakt. Aber ein-, zweimal hat sie gemeint, dass sie sich vor Herrn Krombach fürchtet.

Was sagen Sie zu den Ermittlungen der deutschen Justiz?

Aus meiner Sicht war die deutsche Justiz blind. Der Kemptener Staatsanwalt hat es nicht für nötig erachtet, zusätzliche histologische und toxikologische Untersuchungen der genommenen Proben ergänzend zu den pathologischen Ergebnissen zu machen - und das, ohne mich, den Vater von Kalinka, zu kontaktieren. Für die deutsche Justiz existierte ich nicht, bis ich mich gemeldet und dem Staatsanwalt im November 1982 geschrieben habe.

Obwohl die deutschen Gerichte nicht genügend Beweise für einen Prozess gegen Krombach sahen, haben Sie weitergekämpft.

Ich habe meine Flugblätter, die ich in Lindau verteilt habe, an alle bayerischen Landtagsabgeordneten geschickt. Ein knappes Dutzend hat sich an den Landtag und an den Petitionsausschuss gewendet. Infolgedessen hat das Justizministerium die Staatsanwaltschaft aufgefordert, die Untersuchungen wieder aufzunehmen. Dr. Krombach hat dann zugegeben, Kalinka weitere Injektionen und Medikamente verabreicht zu haben. All das wollte die deutsche Justiz nicht sehen. Die Gerichtsärzte, die Polizeibeamten und die Staatsanwaltschaft haben grobe Fehler in ihrer Arbeit gemacht. Für mich hätte man ein Ermittlungsverfahren gegen sie einleiten müssen - sie hätten dafür verurteilt gehört.

Wann haben Sie beschlossen, Dr. Krombach zu entführen?

Als ich alle rechtlichen Möglichkeiten in Deutschland und Frankreich ausgeschöpft hatte. Dr. Krombach war 1995 vor dem Cour d'appell in Paris angeklagt (ihm wurde Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen, weil er seiner Stieftochter vor ihrem Tod eine Eisenlösung gespritzt hatte/Anm. d. Red.). Er verweigerte eine Aussage und wurde in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt. Anschließend hat Frankreich aber nicht alles unternommen, damit er ausgeliefert wird. Ich habe schriftliche Beweise, die zeigen, dass Dr. Krombach von der deutschen Justiz beschützt wurde, dass man wegen dieser Affäre keine schlechten diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich riskieren wollte. Für mich war also dieser Transport das einzige Mittel, damit ihm in Anwesenheit der Prozess gemacht wird.

Transport? Das war eine Entführung.

Ja, ich sollte Entführung sagen, weil ich deshalb von der französischen Justiz verurteilt wurde.

Wer hat Ihnen dabei geholfen?

Ich hatte rund um Bregenz und Lindau den Leuten, mit denen ich dort in Kontakt war, angekündigt, dass ich Dr. Krombach entführen lassen will, darunter auch einem Detektiv, der aber nicht wollte. Dann hat sich eine Person bei mir gemeldet und hat mir angeboten, sich um die Entführung zu kümmern. Und das habe ich angenommen.

Haben Sie die Tat jemals bedauert?

Nein, ich kann das nicht bedauern.

Wie hat der Tod Ihrer Tochter Ihr Leben verändert?

Bis Oktober 2009 - also bis zur Entführung - hatte ich ständig Beweise für die Schuld von Dr. Krombach und später auch schriftliche Belege für das Arrangement zwischen Frankreich und Deutschland, dass der Doktor nicht ins Gefängnis kommen sollte. Bis dahin war ich besessen davon, dass sich die Justiz mit dem Fall beschäftigt. Anfang 2000 bin ich in Frührente gegangen, um mich ganz um diese Sache zu kümmern. Nachdem Dr. Krombach verurteilt war und ins Gefängnis kam, war ich deutlich ruhiger.

Und jetzt? Haben Sie Ihren Frieden gefunden?

Nein, weil es immer noch juristische Schritte gibt. Aber ich bin jetzt viel ausgeglichener. Ich glaube, dass ich meine Pflicht, die ich gegenüber meiner Tochter Kalinka hatte, erfüllt habe.

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Quelle:
SZ vom 10.11.2016/infu
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