Fachkräftemangel:Bayern gehen die Physiotherapeuten aus

Praxis Norbert Anic  ANIC Physiotherapie  Neumarkterstr. 6a 90518 Altdorf

Der Job des Physiotherapeuten ist an sich sinnstiftend, sagt Norbert Anic aus Altdorf bei Nürnberg - die Rahmenbedingungen seien es nicht.

(Foto: Peter Roggenthin)
  • In Bayern fehlen zahlreiche Physiotherapeuten, Vakanzen können oft lange nicht nachbesetzt werden.
  • Die Ausbildung ist teuer, allerdings verdienen Absolventen schlecht.
  • Leiden müssen unter dem Fachkräftemangel vor allem die Patienten, die immer länger auf Termine warten.

Von Johann Osel, Altdorf

Norbert Anic ist wieder akut auf der Suche. Der Traum wäre eine Vollzeitkraft für seine "modern ausgestattete Physiotherapiepraxis" und das "angenehme Arbeitsumfeld mit sympathischen, kompetenten Kollegen", wie seine Stellenanzeige verheißt. Als der 61-jährige Praxisinhaber aus Altdorf im Nürnberger Land zuletzt jemanden anheuern wollte, ließ er kaum einen Weg aus: Annoncen in der Presse, auf Branchenportalen, Nachhorchen an Fachschulen. Ein Jahr lang fand sich niemand, partout.

Ein Zufall brachte ihm zumindest stundenweise helfende Hände - eine nach Altdorf zugezogene Mutter wollte wieder in den Job einsteigen, eine seiner Angestellten hatte das in einem Yoga-Kurs beiläufig erfahren. Mal sehen, wie lange er nun suche, meint Anic und wirkt nicht annähernd so optimistisch wie körperlich fit. Berufsanfänger? Klar, wählerisch zu sein, gehe kaum noch. Teilzeitkräfte? Klar, man müsse sich einstellen auf alle Familienmodelle. Es gehe ja nicht um ihn oder um seine Geschäfte. Nein, es gehe um die Patienten.

Bayern ist, was das Berufsbild Physiotherapie anbelangt, tief rot; nämlich in der Fachkräfte-Engpass-Analyse der Bundesagentur für Arbeit. Auch andere Länder wie Thüringen und Nordrhein-Westfalen sind so eingefärbt. Die Arbeitslosenquote in dem Beruf bundesweit liegt bei 0,9 Prozent. Im Freistaat bleiben Stellen rechnerisch 159 Tage frei - noch mal mehr als im Bundesschnitt mit 151 Tagen. Klickt man sich durch all die Offerten der Arbeitsagentur, sieht man Gesuche von Bad Reichenhall bis Alzenau, von Passau bis Neu-Ulm. Es scheint keine Region ohne Vakanzen zu geben.

Auf der Jahreshauptversammlung des Landesverbands von "Physio Deutschland", nach eigenen Angaben größte Interessensvertretung, kam neulich viel Unmut auf. Die Lage sei, so heißt es aus dem Büro des Landeschefs Markus Norys, "für unsere teilweise schwerstkranken Patienten untragbar: Sie müssen wochenlang auf Termine warten, die Kapazitäten für Hausbesuche gehen gegen Null - und das, obwohl viele Therapeuten weit mehr als 40 Stunden pro Woche an der Bank stehen".

Der Andrang an Patienten in der Praxis von Norbert Anic erklärt sich schon durch die Lage: im Ärztehaus am Krankenhaus Altdorf. Freundlich grüßt eine Rezeptionistin - dass es sie gibt, ist ein Segen. Die Krankenkassen kalkulieren pro Behandlung etwa 18 Minuten; wenn dann noch der Therapeut Rezepte einlesen oder Termine planen muss, wird es eng. Anic steht im Trainingsraum zwischen Gummibällen, Beinpresse, Kurzhanteln. Es ist später Vormittag, und er hat quasi den menschlichen Körper einmal durch heute, von oben bis unten.

Schlimmstenfalls müssen Patienten sich operieren lassen

Da war am Morgen der Rückenleidende, ein Büromensch, eigentlich sportlich, aber Sitzen verdirbt das Kreuz; dann ein Mann mit Kieferbeschwerden, da können Therapeuten die Muskulatur lockern, das Gelenk gängig machen - sonst könnte ein Kieferproblem rasch die Halswirbelsäule plagen; schließlich eine Frau mit Multipler Sklerose, solchen Patienten helfen Therapeuten etwa bei der Kräftigung der Beine, um Spastiken zu lindern.

Es stehen noch Termine an, am Abend wird Anic die Wirbelsäulengymnastik im örtlichen Turnverein leiten. Für Beweglichkeit und Kraft, bei flotter Musik. Ohne Inhaber, die ordentlich mitanpacken, könne eine Physiopraxis kaum funktionieren. Er führt den Betrieb mit seiner Frau. Sie ist gerade im "Kinderzimmer" und lässt ein Baby mit motorischen Verzögerungen nach Dingen greifen. So breit ist die Palette in der Praxis mit sieben Mitarbeitern. Anderthalb Stellen könnte man besetzen. "Der Markt ist abgegrast, der Nachwuchs bleibt aus", sagt Anic, er will die Ursachen erklären. Und landet schnell beim Thema Geld.

Zwar mögen die Arbeitszeiten abschrecken, oft müssen Physiotherapeuten dann ran, wenn berufstätige Patienten Zeit haben; zwar mag der Job anstrengend sein, Leiber kneten, Beine strecken, Muskeln öffnen, der Gedanke an Schweißfüße kommt hinzu. Doch der Kern liegt laut Anic bei dem, was Therapeuten verdienen, und bei dem, was sie zuvor bezahlen. Die dreijährige Ausbildung an Berufsfachschulen (zum geringen Teil an Hochschulen) kostet je nach Schule bis zu 20 000 Euro. Ein Medizinstudium wäre gratis.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema