Bayreuther Festspiele:Wie man im heißesten Festspielhaus der Welt überlebt

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Wer seinen Sohn Tristan nennt, muss ein Fan sein: Thomas Gottschalk bei der diesjährigen Festspieleröffnung. (Foto: dpa)

Es gibt keine Strategie, Wagner in Bayreuth heil zu überstehen. Es gibt bestenfalls Möglichkeiten temporärer Linderung. Eine Annäherung.

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In diesem Jahr hatte man bisher Glück. Es war keineswegs so heiß, wie es Ende Juli hier meist ist, dunkle Wolken zogen über den Hügel hinweg, manchmal regnete es auch ein bisschen, aber hübsch geordnet, während drinnen gespielt wurde und nicht in der Pause. Und doch verabschiedete sich am Montag im "Rheingold" ein stattlicher Herr in Reihe 27 mit einem lauten Seufzer aus dem Geschehen. Der Seufzer war gewaltig, doch nur kurz herrschte Unruhe, weil die Bayreuth-Profis derlei gewohnt sind und Seufzen zu Wagners Musik dazugehört, ja irgendwie sogar mit hineinkomponiert ist, allerdings wohl am wenigsten im "Rheingold", da hat sich der Herr ein wenig im Stück vertan.

Es wird, auch wenn es dafür genügend historische Erklärungen gibt, letztlich ein Rätsel bleiben, weshalb Richard Wagner sein Festspielhaus ausgerechnet in einer Stadt erbaute, in der sich im Sommer die Hitze staut, in der sich meist kein Lüftchen regt. Das Klima fühlt sich an wie im Treibhaus, nicht umsonst bauten die Markgrafen ihre Sommerfrische, die Eremitage, auf einer Anhöhe, die selbst den Grünen Hügel weit überragt. Hier weht die Luft frisch von außen her, bevor sie in den Kessel hinabsinkt und dick und feucht wird.

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Steht man vor dem Festspielhaus, sieht man linker Hand einen Kiosk, in welchem man ein paar lustige Devotionalien erwerben kann, die als Beweisstück der Anwesenheit dienen, falls eine Kreislaufschwäche die Erinnerung daran trübt. Gleich gegenüber befindet sich ein kleines Häuschen, daran eine Flagge mit einem roten Kreuz. Nicht zu verwechseln mit dem Schweizer Konsulat - es ist die Lebensrettungsstation auf dem Hügel. Vor ihr sitzen immer zwei Sanitäter, und ein bisschen wirkt es wie auf dem Münchner Oktoberfest, wo ja auch die medizinischen Ersthelfer auf vom Rausch Betäubten lauern. Hier wie dort geht es um den Rausch, wobei der in Bayreuth einer der Musik und nicht des Alkohols ist.

Zum Glück für den bayerischen Ministerpräsidenten mussten die Helfer nicht direkt eingreifen, als der prominente Premierengast bei der Aufführung am Samstag nach dem sich unendlich lange hinziehenden Liebestod von Tristan und Isolde auf einmal rammdösig wurde. Ein kleiner Schwächeanfall, kann ja mal passieren. Seiner Entourage gelang es, den bleichen Horst Seehofer diskret durch den Hinterausgang zum Rettungswagen zu bugsieren und ins Klinikum Bayreuth zu chauffieren, wo er eine wagnerfreie Nacht verbrachte.

Es ist keine Schande, bei Tristan in die Knie zu gehen, auch wenn man jetzt boshafterweise anfügen muss, dass sich Seehofers Koalitionspartnerin in ihren nächtelangen Krisenrunden in Brüssel und Berlin offenbar etwas mehr Sitzfleisch angeeignet hat: Angela Merkel absolvierte den "Tristan" mit der ihr eigenen Gelassenheit; sie verzog auch keine Miene, als sie beim Pausenempfang von einem nachweislich altersschwachen Stuhl rutschte - aber wer sein Gesäß schonen möchte, ist hier ohnehin fehl am Platz.

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Es gibt keine Strategie, Wagner in Bayreuth heil zu überstehen. Es gibt bestenfalls Möglichkeiten temporärer Linderung. Ein Grund ist, dass das Festspielhaus unter den strengsten Gesichtspunkten akustischer Optimierung erbaut wurde. Zu Beginn eines jeden Aufzugs glaubt man immer noch kurz, ach ja, so schlimm ist es gar nicht. Wird es aber. Irgendwann ist der Sauerstoff von den emotional und intellektuell hochangestrengten Zuschauern aufgesogen, und dann beginnt der Kampf mit sich selbst.

Wer wahrt mehr Würde - Damen oder Herren?

Die männlichen Stammgäste gehen damit folgendermaßen um: Als Erstes ziehen sie, noch bevor der erste Ton erschallt, ihr Sakko aus, wobei sie dem Nebensitzer erst einen Arm, dann einen Ärmel und schließlich in seltsamen Verrenkungen wahlweise Schulter oder Gesäß ins Gesicht drücken. Dann fallen sie in tiefen Schlaf. So wie Thomas Gottschalk, der in der aktuellen Bunten einen Überlebensbericht aus Bayreuth geschrieben hat: In Momenten "bleierner Müdigkeit" nehme er vorzugsweise eine stabile Schräglage ein, was wiederum seiner Frau Thea die Sicht auf das Bühnengeschehen versperre.

Die Gottschalks kehren dennoch immer wieder an den Ort des Leidens zurück, trotz oder vielleicht auch ein wenig wegen der enthemmten Freizeit-Paparazzi. Die Gottschalks haben ihren jüngeren Sohn sogar Tristan genannt, das heißt, sie sind eher schmerz- als scherzfrei.

Thomas Gottschalk hat mit seinen Beobachtungen übrigens völlig recht: Die Damen wahren im härtesten Festspielhaus der Welt meist mehr Würde. Sie können oft auch nichts mehr ausziehen, ohne die Umsitzenden zu sehr vom Geschehen auf der Bühne abzulenken. Die Damen hören zu und stupsen gegebenenfalls ihre Begleiter. Am Dienstag, in der "Walküre", war man in Reihe 26 leider umgeben von lauter allein sitzenden Herren, was dazu führte, dass, als im zweiten Aufzug Wotan Brünnhilde die Vorgeschichte des Ring-Schlamassels erklärte, ein tiefes Schnaufen und Schnarchen einsetzte. Man fühlte sich wie in einem geräuschvoll ruhenden Organismus. Viel ist im "Ring" von "hartem Schlaf" die Rede, er ist sicherlich ein probates Mittel, den Kreislauf auf niedrigem Niveau stabil zu halten. Doch leider bekommt man dann halt von der Oper nichts mit.

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Andere werden da neidisch. Nicht weil sie auch von der Oper nichts mitkriegen wollten, nein. Sondern weil ihnen der Schlaf nicht gelingen mag. Nicht immer ist er leicht zu finden. Die Sitzflächen sind dünn gepolstert, die Bandscheibe drückt. Man sitzt eng, je nach Sitznachbar sehr eng, und seltsamerweise sind es nicht immer die schlanksten Menschen, die Wagners Musik lieben. Dann drückt einen die Rückenlehne genau in die Mitte des Rückens, was man kaum ausgleichen kann, weil dann schon wieder die Knie schmerzhaft an die Kante des Vorderstuhls heranrücken. Kurz: Man kann sich nicht bewegen.

Insgesamt ist es ein Exerzitium. Aber es geht in Bayreuth ja auch nicht darum, Spaß zu haben oder in den Genuss einer Klimaanlage zu kommen. Es geht um eine heilige Kunsterfahrung. Wenig lenkt davon ab. Und so schleichen in den einstündigen Pausen die Menschen ums Festspielhaus auf der Suche nach Labsal. Manchen genügen die Würstel, deren weiche Geschmacksneutralität jedes Jahr aufs Neue verblüfft.

Erfahrene Bayreuth-Besucher wenden sich Richtung Parkplatz. Die einen haben im Kofferraum ihres Autos eine Kühltasche mit selbstgeschmierten Semmeln und Kartoffelsalat aus der Tupperware. Andere wiederum suchen das kleine Freibad Bürgerreuth auf. Dort kann man kneipen, also mit bloßen Füßen im erfrischenden Nass umhergehen. Allerdings schließt die Anlage um 20 Uhr; an heißen Tagen sieht man in der zweiten Pause mitunter verzweifelte Menschen am Zaun rütteln.

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Wieder andere rennen noch weiter den Hügel hinauf zu einem italienischen Restaurant; da muss man allerdings recht sportlich beieinander sein, denn eine Stunde Pause ist dann doch nicht so lang. Wieder andere gehen einfach ins Restaurant neben dem Festspielhaus, und das sind dann die, denen der physische Zusammenbruch droht. Nicht wegen der Küche dort, sondern weil man dann schon wieder sitzen muss, ohne den Kreislauf vor dem nächsten Akt etwas in Schwung zu bringen. Deshalb zählen auch immer wieder Prominente zu den Opfern der Aufführungen: Die können in der Pausen nicht einfach so herumlaufen. Und schon erwischt es sie danach.

Richard Wagner selbst scheint die Mühsal geahnt zu haben, die er den Zuhörern seiner Musik aufbürdet. Und da er Erfolg haben wollte, bei aller künstlerischen Kompromisslosigkeit, entwickelte er eine Art psychosomatische Dramaturgie. Sehr schön kann man diese beim "Ring" verfolgen. Fast jeder der Aufzüge beginnt mit etwas musikalisch sehr Interessantem, dann folgt eine mehr oder weniger ausgedehnte Durststrecke, in der meist einer dem anderen auf der Bühne sehr viel erzählt, was der Zuschauer ohnehin schon weiß.

Wichtig: das obligatorische Beweisfoto vor dem Festspielhaus

Dann blüht die Musik wieder auf, das Ende eines jeden Aufzugs ist grandios, Klang ("Walküre" Ende), Verführung ("Walküre" erster Akt), transzendentales Erlebnis ("Tristan" Ende). Wo Wagner selbst die Binnendramaturgie von Spannung, Entspannung und Anspannung unterbricht, wird es sofort verheerend. Das beste Beispiel dafür ist der erste Aufzug der "Götterdämmerung", in welcher nach dem instrumentalen Vorspiel die drei Nornen alles erzählen, was man in den Teilen zuvor erlebt hat. Das kann zu spontanen Totalausfällen des vegetativen Nervensystems führen.

Wenn man den Abend dann glücklich überlebt hat, steht man mit anderen glücklichen Menschen im Stau am Grünen Hügel. Es sei denn, man schwänzt den letzten Akt, so wie das bei der "Tristan"-Premiere dieses Mal ein bekannter Textilunternehmer machte, der gerne "Made in Germany" auf seine T-Shirts drucken lässt. Er eilte ruckzuck zurück zum Privatflieger, ein praktisches Fortbewegungsmittel, wenn man hin und weg von Wagner ist. Immerhin: Für das obligatorische Beweisfoto vor dem Festspielhaus hat die Zeit gereicht.

© SZ vom 31.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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