Friedrich-Alexander-Universität:Der Fall Stemmler

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Ein Erlanger Professor sichert Häftlingen zu, ihre Angaben in Forschungsinterviews unterlägen der Verschwiegenheit. Kurz darauf beschlagnahmen Ermittler ein Tonband. Nun muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Von Olaf Przybilla, Erlangen/Bamberg

Wer ein Forschungsprojekt über islamistische Radikalisierung im Gefängnis in die Wege leiten will, der braucht dafür natürlich geeignete Probanden. Keine ganz einfache Aufgabe, wie man sich vorstellen kann - und so versuchte ein Erlanger Forscherteam infrage kommende Inhaftierte mit zwei Versprechen zum Reden zu bringen. Das erste war ein finanzielles "Dankeschön", allerdings sehr übersichtlicher Art, drei Euro bekamen die Befragten.

Das zweite dürfte weit wichtiger gewesen sein. "Vorab", legten die Forscherinnen und Forscher schriftlich nieder, "möchten wir Sie wissen lassen, dass das, was Sie uns erzählen, keine Folgen auf Ihre Strafe oder Ihre Zeit im Gefängnis hat." Die Inhaftierten, so wurde versichert, würden wegen Ihrer Angaben keinerlei Probleme bekommen. Die Begründung dafür klang einleuchtend: "Wir haben Schweigepflicht" - man dürfe "nichts von dem erzählen, was Sie uns sagen". Gezeichnet war dieses sozusagen schriftlich fixierte Versprechen von "Prof. Dr. M. Stemmler", dem Inhaber des Lehrstuhls für psychologische Diagnostik, Methodenlehre und Rechtspsychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Ein zu der Zeit 26-Jähriger aus dem Irak, wegen Drogendelikten in der Bamberger JVA inhaftiert, fand das im Oktober 2019 offenbar hinreichend vertrauenswürdig. Zumal das alles ja von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde, Projektnummer 367171077. Er ließ sich also auf ein Interview ein und sah sich dabei mit einer Bitte des Forscherteams konfrontiert: Für sie sei es leichter, wenn sie das Gespräch aufnehmen dürften. "Außer uns würde niemand die Aufnahme anhören", bekam der 26-Jährige zugesichert. Er willigte ein; eine Mitarbeiterin von Professor Stemmler erstellte also einen elektronisch gesicherten Audiofile.

Professor Mark Stemmler ist Inhaber eines Lehrstuhls für Psychologie an der Universität Erlangen. Einer seiner Schwerpunkte ist die Kriminologie. (Foto: Sonja Och)

Dreieinhalb Monate später erwirkte die Generalstaatsanwaltschaft München einen weitreichenden Beschluss. Angeordnet wurde die Durchsuchung des Lehrstuhls von Mark Stemmler am Erlanger Institut für Psychologie, inklusive Beschlagnahme von Material mit Bezug auf besagten 26-jährigen Iraker. Verboten sei dergleichen nicht, befand der zuständige Ermittlungsrichter. Immerhin sei das Material nicht aus einem Behandlungsverhältnis hervorgegangen - sondern aus einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt.

Als Grund für die Beschlagnahme wurde von Ermittlern die Aussage eines ehemaligen Mithäftlings des 26-Jährigen herangezogen. Dieser hatte den Iraker offenbar beschuldigt, er habe sich "der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland" schuldig gemacht.

Am 31. Januar 2020 bekam Stemmler, Leiter des Projekts "Islamistische Radikalisierung im Justizvollzug", Besuch vom Landeskriminalamt. Der Hochschullehrer besprach sich zunächst mit der Universitätsleitung, gab dann das geforderte Material - vor allem die Tonbandaufnahme - heraus, "um eine weitere Durchsuchung der Räumlichkeiten zu verhindern", wie es in der Verfassungsbeschwerde heißt, die der Erlanger Wissenschaftler unterdessen in Karlsruhe eingereicht hat. Zwar habe Stemmler der Mitnahme des Forschungsmaterials widersprochen, erklärt darin der Verfahrensbevollmächtigte Helmut Pollähne. Dies allerdings ohne Erfolg. Das Tonband wurde beschlagnahmt.

Kollegen protestierten "auf das Schärfste"

Dürfen Ermittler so etwas? Immerhin wurde nicht nur den Probanden absolute Verschwiegenheit zugesichert - auch die Forschenden ihrerseits müssen diese zusichern. Sie verpflichten sich, Informationen über Straftäter "nicht an Dritte weiterzugeben". Auch werden sie hingewiesen, die Verletzung von Privatgeheimnissen werde strafrechtlich belangt, es drohe eine Haftstrafe. Und dann können Wissenschaftler gezwungen werden, genau solche Informationen herauszugeben?

Die Reaktion in der Forschungsszene ist entsprechend. In einem "Brandbrief" protestieren Extremismusforscher "auf das Schärfste" gegen das Vorgehen bayerischer Behörden. Sie sehen die verfassungsrechtlich garantierte Forschungsfreiheit eines Hochschullehrers verletzt. Zumal das Forschungsmaterial nicht beschlagnahmt wurde, um eine bevorstehende Straftat zu verhüten. Der Schaden, der dadurch angerichtet werde, sei "absehbar groß" - immerhin sei die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes in Forschungsinterviews von zentraler Bedeutung. Gezeichnet ist das Papier von maßgeblichen Einrichtungen für Extremismusforschung, insgesamt acht Hochschulen und Unis.

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Eine Stellungnahme der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft München, bei der die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus angesiedelt ist, lässt erkennen, dass der Eingriff auch dort als nicht alltäglich eingeschätzt wird. So sei es den Ermittlern stets bewusst gewesen, dass der Vorgang in Erlangen "einen Eingriff in die Forschungsfreiheit" darstelle. Trotzdem halte man diesen für "gerechtfertigt" und "insbesondere auch verhältnismäßig". Schließlich habe der Anfangsverdacht für ein schwerwiegendes Verbrechen vorgelegen. "Gleichwohl möchte ich darauf hinweisen", erklärt Sprecher Klaus Ruhland, dass es sich "bei dem vorliegenden Zugriff auf Forschungsdaten um einen extrem seltenen Einzelfall gehandelt" habe.

Auf einen maßgeblichen Punkt, der nicht vielen bewusst sein dürfte, weist Ruhland zusätzlich hin. Laut Strafprozessordnung haben Seelsorger und Psychotherapeuten, Anwälte, Ärzte, Apotheker und Abgeordnete ein Zeugnisverweigerungsrecht - sowie "Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken" mitwirken. Gedeutet aber wird Letzteres gemeinhin als ein Recht für Journalisten - wohingegen für "Forscher und Wissenschaftler" ein solches Zeugnisverweigerungsrecht nicht existiere, wie Ruhland ausführt. Das Oberlandesgericht München schloss sich dieser Deutung an. Dem Forscher stehe kein "einfachgesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht" zu, die Beschlagnahme sei insofern rechtmäßig gewesen, urteilte es im Juli 2020.

Die Datenschutzerklärung wurde geändert

Dagegen hat Mark Stemmler Verfassungsbeschwerde eingelegt. Laut Grundgesetz sei der Freiraum des Wissenschaftlers ebenso vorbehaltlos geschützt wie die Freiheit der künstlerischen Betätigung, argumentiert er. In beidem herrsche "absolute Freiheit" vor jeglicher Einmischung öffentlicher Gewalt. Mit der Beschlagnahme in Erlangen hätten die bayerischen Ermittler nicht nur faktisch in diese Forschungsfreiheit eingegriffen. Der Eingriff begründe auch die konkrete Gefahr, "zukünftige gleichgelagerte Projekte nicht mehr durchführen zu können, weil potenzielle Interviewpartner ihre Teilnahme verweigern".

Tatsächlich hat Stemmler die Datenschutzerklärung für Interviews in der Haft unterdessen abgeändert. Es wird nun nicht mehr zugesichert, dass das, was die Strafgefangenen im Interview erzählen, "keine Folgen" auf deren Strafe oder Zeit im Gefängnis habe. Auch dass sie angeblich "keine Probleme" bekommen, wird so wie zuvor nun nicht mehr zugesichert. Stattdessen verweist ein Passus jetzt darauf, es sei zwar "sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass die Staatsanwaltschaft auf diese Daten zugreift".

Glücklicherweise, so berichtet Stemmler, seien bislang nur wenige Strafgefangene aus den Interviews "ausgestiegen" - und sicher nur jene, "die die Datenschutzerklärung von A bis Z durchgelesen" hätten. Im Übrigen aber sollten nun alle Kriminologen und Kriminologinnen besagten Passus benutzen. Auf einer Folie während einer Kriminologietagung sei zuletzt sogar zu lesen gewesen: Der Fall Stemmler habe "alles verändert".

Wann das Bundesverfassungsgericht über den Fall entscheiden wird, steht nach Angaben eines Sprechers noch nicht fest. Fest steht dagegen, dass die Beschlagnahme des Forschungsmaterials nicht von Erfolg gekrönt war. Bereits im August 2020 hat die Generalstaatsanwaltschaft das Verfahren gegen den 26-Jährigen eingestellt - kein hinreichender Tatnachweis.

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