Erinnerungen von 1812:Blechernes Kriegstagebuch

Lesezeit: 3 min

Wimmer präsentiert sich nicht als Held, sondern wie er sich 1812 bei der Schlacht von Polozk vor den angreifenden Kosaken unter dem Wagen versteckt. (Foto: N/A)

Vor 200 Jahren zog Jakob Wimmer aus Katzwalchen nach Russland. Der Soldat dokumentierte in einem Kästchen seine Erlebnisse. Dieses einzigartige Relikt wird nun restauriert. Das Besondere: Wimmer präsentiert sich nicht als Held, sondern eher als Feigling.

Von Hans Kratzer

Europa jammert über die Finanzkrise und tut so, als ob demnächst die Welt unterginge. Der Bauernsohn Jakob Wimmer aus Katzwalchen (Landkreis Traunstein) und seine vielen Leidensgenossen hätten seinerzeit wohl jubiliert, wenn sie "nur" die Sorge ums Geld geplagt hätte. Ihre Jugendzeit war vor gut 200 Jahren vom Krieg geprägt, denn Europa stand unter der Fuchtel des Franzosenkaisers Napoleon. Und der hetzte seine Verbündeten von einer Schlacht in die nächste.

Im Jahr 1812 musste Wimmer als Soldat des Koeniglich-Baierischen 1. Linieninfanterieregiments mit der Grande Armée nach Russland ziehen, wo Napoleons Eroberungswut in einem Desaster endete.

Zu den wenigen, die zurückkehrten, gehörte auch Jakob Wimmer, dem wir ein einzigartiges Relikt dieser Zeit verdanken. Es handelt sich um ein blechernes Gedenk-Kasterl, das in Wort und Bild an Wimmers Militärzeit erinnert. Bislang war es unscheinbar an einer Wand am Eingang der Pfarrkirche Mariä Empfängnis in Palling eingelassen. Von den Jahren und von der Witterung gezeichnet, wird dieses kostbare Stück momentan in der Restaurierungswerkstatt des Landesamts für Denkmalpflege konserviert.

Der Betrachter ahnt kaum, welcher Schatz sich in dem rostbraun verfärbten Kasterl verbirgt. Öffnet man den Deckel, ist auf einer Blechtafel das Porträt eines Bauern zu sehen, über dessen Identität eine Notiz auf der Innenseite Aufschluss gibt: "Jakob Wimmer Freidlbauer von Katzwalchen machte 1812 den Feldzug nach Russland, 1813, 1814 und 1815 den Feldzug nach Frankreich mit und starb 1872 in Palling im Alter von 82 Jahren." Als einem der wenigen Männer aus seiner Generation war dem Freidlbauern also ein langes Leben geschenkt. Vermutlich aus Dankbarkeit über seine glückliche Heimkehr hat er das Gedenk-Kasterl wohl in den Jahren zwischen 1850 und 1870 anfertigen lassen. Auf einer der sieben Tafeln erfahren wir, dass Wimmer auch bei der blutigen Schlacht von Polozk am 18. und 19. Oktober 1812 mitgekämpft hat. Diese Schlacht ist als "Bayerngrab" in die Geschichte eingegangen. Wimmer schrieb dazu:

"Als wir am 20. Oktober uns zurückziehend die Düna verlassen, sprengten zwischen 5 und 6 Uhr abends Kosacken an, wir sprangen auf einen Pulverwagen und sagten, nicht zu schießen; jedoch schoss einer von uns einen Kosacken vom Pferde; jetzt erst sprengten sie in voller Menge auf uns ein; ich versteckte mich unter den Pulverwagen, wo noch ein schwer Verwundeter lag; ich wickelte mich in einen Mantel und schaute bloß mit dem Gesicht welches ich mit Blut bestrich heraus. Etwa hundert Schritte rückten die Russen noch vor; dann kam unser großes Geschütz, die Russen mussten zurück, und ich gieng wieder zu den Unserigen."

Bemerkenswert ist, dass Wimmer hier keine Heldentat schildert, sondern eher eine "Feigheit vor dem Feind", wie es der Restaurator Jens Wagner am Montag im Denkmalamt bei einem Vortrag über das Kasterl ausdrückte. Wimmer versteckte sich, als die Gegner angriffen. Andernfalls hätte er den Russlandfeldzug aber womöglich nicht überlebt.

Die Blechtafeln lassen sich ähnlich wie Buchseiten an einem Scharnier aufklappen. Auf Ihrer Rückseite ist in kurzen Worten ein Kriegserlebnis geschildert, das auf der gegenüberliegenden Tafel abgebildet ist. Das Bildnis des Wimmer lässt im Übrigen erkennen, dass er eine dunkle Joppe trägt und dass an seine Brust zwei Orden geheftet sind. Mit der rechten Hand deutet er nach links hinten zu einem Gebäude mit der Aufschrift "Paris". Vermutlich will er damit sagen, dass er nach Napoleons Sturz den triumphalen Einzug in die französische Hauptstadt mitgemacht hat.

Der Soldat Jakob Wimmer hatte im September 1812 auch an der mörderischen Schlacht von Polozk teilgenommen, in der ein Großteil der bayerischen Armee aufgerieben wurde. (Foto: N/A)

Als Restaurator am Landesamt für Denkmalpflege ist Jens Wagner gerade dabei, das angegriffene Kleinod zu konservieren. Durch Rost oder Zinnkorrosion löst sich bereits die Malschicht vom Metalluntergrund. Ablösungen der Farbe wurden niedergelegt und gefestigt. "Es soll aber so viel wie möglich authentisch bleiben", erklärt Wagner, auch im Hinblick auf die Landesausstellung 2015 in Ingolstadt, in der die Napoleonzeit im Mittelpunkt stehen und Wimmers Kasterl ein wichtiges Objekt darstellen wird.

Der Boden des Kästchens bildet die letzte Seite von Wimmers Bericht. Dort schreibt er: "Baiern schlagen die Entscheidungs-Schlacht bei Bar-sur-Aube mit der verbündeten Armee, am 27. und 28. Februar 1814." In der Nähe des Städtchens Bar am Fluß Aube war ein Schlachtfeld des sogenannten Winterkrieges. Hier sieht man im Vordergrund verwundete Soldaten. Dahinter rechts, dicht gedrängt, Offiziere zu Pferde, der vordere deutet in die Ferne, wo der Himmel von Rauch verdunkelt ist.

Nach Abschluss der Arbeiten soll das Kästlein zunächst provisorisch in der Pallinger Kirche angebracht werden. Eine endgültige Montage soll erst nach der Landesausstellung Ende des Jahres 2015 erfolgen.

Der Heimatpfleger Franz Jäger hat mittlerweile einiges über Jakob Wimmer herausgefunden. Etwa, dass dieser mit 19 Jahren am 16. November 1809 als Soldat in die bairische Armee eingezogen wurde. Insgesamt hat er sechs Jahre, vier Monate und zwei Tage als einfacher Soldat gedient. Aber nicht nur das Kasterl beweist, dass er sich sein Leben lang mit seinem Schicksal auseinandergesetzt hat. Es existiert nämlich auch noch eine von ihm angefertigte Votivtafel, die ihn in Russland zusammen mit seinem Bruder Simon zeigt.

Auf dem Rückzug von Polozk waren sich die Brüder zufällig begegnet. Simon Wimmer aber war zu diesem Zeitpunkt bereits so schwer erkrankt, dass er am 18. September 1812 starb. Mit der Votivtafel drückte Jakob Wimmer später seinen Dank aus, dass es ihm noch vergönnt war, sich fern der Heimat von seinem Bruder zu verabschieden.

© SZ vom 27.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: