Entführung aus Pflegefamilie:Das verschwundene Mädchen

Fatma lebte aus gutem Grund in einer Pflegefamilie - trotzdem war es ihrer leiblichen Mutter möglich, die Zweijährige zu entführen. Die Jugendfürsorge hat dabei eine unrühmliche Rolle gespielt.

Dietrich Mittler

Der umgekippte Kreisel unter dem Wickeltisch und die große blonde Puppe, die sich an das Kinderbett mit seinem blau-gelben Baldachin lehnt, haben für Helene Mayer nur noch eine Botschaft: Das Kind ist weg. Verschleppt, entführt.

Die 27-jährige Frau aus Regensburg - ihr Name und der aller anderen Familienmitglieder wurden geändert - blickt wie erstarrt auf die Runde aus Teddybären, Puppen und einem rauschebärtigen Weihnachtsmann in der Spielecke. Viele Mütter würden jetzt wohl in Tränen ausbrechen und von ihrer Angst um das Kind erzählen. Helene Mayer aber ist keine normale Mutter. Fatma, das verschwundene Mädchen, ist rein rechtlich gesehen nur ihre Pflegetochter.

Der Fall ist ebenso verstörend wie einzigartig. Die Geschichte vom Pflegekind Fatma und seinen deutschen Ersatzeltern beginnt im November 2008, als das Familiengericht Regensburg Fatmas Eltern weitgehend das Sorgerecht entzieht: Es sieht das Kindeswohl bei ihnen nicht gewährleistet, die Vormundschaft wird der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) übertragen.

Der KJF-Mitarbeiter Dieter M. bringt das vier Wochen alte Baby zu Helene Mayer, die leiblichen Eltern haben das Recht auf Besuchskontakte. Nach diesen Besuchen sei das Kind oft heiser gewesen, sagt Mayer. Vom Schreien, wie sie vermutet. Kinderärzte bestärken sie in dieser Meinung.

Dann kommt der 30. Dezember des vergangenen Jahres. An diesem Tag soll das Mädchen einige Stunden mit ihrer leiblichen Mutter verbringen. Helene Mayer, ihr Lebensgefährte Harald Schüssler und die zweijährige Fatma fahren zum Büro der Katholischen Jugendfürsorge. Helene Mayer hat ein ungutes Gefühl: "Fatmas Mutter machte auf mich einen stark verstörten Eindruck. Sie war blass, hatte Ringe um die Augen", sagt sie.

Die Pflegeeltern bieten sich an, zusammen mit der Mutter bei dem Kind zu bleiben, doch nach einer halben Stunde, um zehn Uhr, fordert sie ein KJF-Mitarbeiter auf zu gehen. Kurz darauf darf auch die Mutter mit der kleinen Fatma und deren größerem Bruder das Büro verlassen - entgegen der eindringlichen Empfehlung des Stadtjugendamtes, dass die leiblichen Eltern ihre Kinder nur noch in den Räumen der KJF treffen sollten, in Begleitung von pädagogisch kompetenten Fachkräften oder der Pflegeeltern.

Am späten Nachmittag kehren Helene Mayer und ihr Partner zurück zum Büro. Fatma ist nicht da. Eine Stunde später immer noch nicht. Sie fahren zur Wohnung der leiblichen Eltern. Nachbarn erzählen ihnen, sie hätten seit Tagen nichts mehr von der Rumänin, ihrem türkischen Partner und Fatmas zwei Jahre älterem Bruder gehört. Am Abend erstatten die Pflegeeltern und ein KJF-Mitarbeiter bei der Polizei Anzeige wegen Kindesentziehung.

Jugendfürsorge erlaubt Einreise in Türkei

Es folgen Tage der Ungewissheit. Dann, am 3. Januar, ruft Fatmas Vater bei der KJF an. Er sagt, seine Partnerin sei mit dem Mädchen und deren Bruder in Rumänien. Er fahre nun auch dorthin. Fünf Tage später teilt er am Handy mit, er stehe mit den Kindern kurz vor der Grenze zur Türkei. Wie die Regensburger Polizei rekonstruieren kann, spielt nun Fatmas Vormund Dieter M. eine entscheidende Rolle in der weiteren Entwicklung.

"Die Katholische Jugendfürsorge hat dem Vater erlaubt, mit diesem Kind in die Türkei einzureisen", sagt der Regensburger Oberstaatsanwalt Wolfhard Meindl. Der für Fatma zuständige KJF-Mitarbeiter begründet seine Entscheidung später so: "Ich meinte, es wäre besser, die Kinder in der Türkei bei seiner Familie zu haben als in Rumänien."

Aus Sicht von Helene Mayer hat der Vormund damit nichts anderes gemacht, als die illegale Kindesentziehung - begonnen durch die Mutter und vollendet durch den Vater - auch noch zu unterstützen. Ihre Rechtsanwältin Hannelore Klar bringt die Vorwürfe auf den Punkt: "Nachdem am 3.Januar der Aufenthaltsort der Kinder bekannt war, hätte der KJF-Pfleger die Verpflichtung gehabt, zur Abwendung der akuten Gefährdung der Kinder eine sofortige Rückführung nach dem Haager Kindschaftsabkommen zu veranlassen", sagt sie.

Doch stattdessen ruft Fatmas Vormund bei der Pflegemutter an und teilt ihr mit, die Kinder seien nun in Sicherheit. Sie kämen in die Obhut der väterlichen Großfamilie.

Helene Mayer ist fassungslos: Fatma, herausgerissen aus ihrer vertrauten Umgebung, soll nun im türkischen Izmir mit einer ihr völlig fremden Lebensweise zurechtkommen. Von der angeblichen Großfamilie in der Türkei könne gar keine Rede sein. Der leibliche Vater sei wieder in Deutschland, die Mutter inzwischen unauffindbar.

Fatmas Tante sowie ihr Onkel arbeiteten tagsüber, so dass das Mädchen von acht bis 17 Uhr in einer Tagesstätte untergebracht werde. "Ich darf gar nicht darüber nachdenken, wie es ihr jetzt gerade geht - kein vertrautes Gesicht um sie herum", sagt Helene Mayer, sichtlich bemüht, Haltung zu bewahren. Sie will kämpfen, bis Fatma wieder zurück ist in Regensburg - zu Hause.

Entscheidung zum Wohl des Kindes?

Nach Angaben von Oberstaatsanwalt Meindl haben die Pflegeeltern vor dem Amtsgericht Regensburg ein Verfahren angestrengt, um das Kind wiederzubekommen. Die KJF ihrerseits hatte einen Tag zuvor ebenfalls das Familiengericht eingeschaltet. Dieses solle eine Sachverständige beauftragen und in Izmir überprüfen lassen, ob der Verbleib der Kinder in der Türkei eine Kindeswohlgefährdung darstellt.

Am 18.Februar kommt es vor dem Familiengericht zu einer mündlichen Verhandlung, an der auch der aus Izmir zurückgekehrte Vater teilnimmt. "Ich bin jetzt wieder hier in Deutschland und möchte hier auch bleiben", sagt er laut Protokoll. Er lebe im Augenblick von Hartz IV, wolle aber unbedingt Arbeit finden, um die Betreuungs- und Ausbildungskosten für seine Kinder in der Türkei zahlen zu können. Der KJF-Justitiar Helmut Schindler steht ihm bei. Wie aus der Sitzungsmitschrift hervorgeht, sagt er: "Es war wohl kaum für die Kinder belastend, gemeinsam mit beiden Elternteilen von Rumänien in die Türkei zu gehen und dann in die Familie des Kindsvaters zu kommen."

Kurz darauf - nach ersten kritischen Berichten über den Fall Fatma in der Lokalpresse - scheint sich in der Katholischen Jugendfürsorge aber die Einsicht durchgesetzt zu haben, diese Haltung werde dem öffentlichen Druck nicht standhalten. KJF-Direktor Michael Eibl stellt in einer Pressemitteilung klar: "Abrupte und plötzliche Trennungen sehr kleiner Kinder von ihren Bindungspersonen widersprechen den kindlichen Interessen." Ihm sei auch klar, so erklärt er auf Nachfrage, "dass es für Fatma eine traumatisierende Erfahrung ist, aus der stabilen Situation in der Pflegefamilie herausgerissen zu werden".

Dass die Mutter die Kinder nach Rumänien entführt habe, sei ein schweres Vergehen. "Daran gibt es nichts zu deuteln", sagt er, betont aber auch: "Die Mutter hat die Kinder nach Rumänien entführt, nicht der Vater." Der verhalte sich, wie ihm sein Mitarbeiter versichert habe, "insgesamt sehr kooperativ".

Es sei nun Sache des Regensburger Familiengerichts, eine Entscheidung zum Wohle der Kinder zu treffen, versucht Eibl die Wogen zu glätten. Doch der Fall Fatma ist längst zum Politikum geworden. So ist die Rede von wütenden Vorwürfen aus dem Stadtjugendamt, Fatmas Vormund habe alle Bitten und Anregungen weitgehend ignoriert - bis hin zum Vorschlag, ein gemeinsames Krisenmanagement aufzubauen.

Eibl weist das zurück. Es gebe keine Konflikte mit der Behörde, zu deren Aufgaben es auch gehört, die Arbeit der Vormunde fachlich zu begleiten. Man arbeite im Gegenteil sehr konstruktiv zusammen. Doch dagegen spricht, dass sich selbst die leitenden Mitarbeiter des Stadtjugendamtes zum Fall Fatma nicht mehr öffentlich äußern dürfen.

Das Recht auf Presseauskünfte in dieser Sache behält sich Joachim Wolbergs vor, Dritter Bürgermeister von Regensburg. "Ich bin ein großer Freund der Katholischen Jugendfürsorge. Wir müssen eine Eskalation vermeiden", sagt der SPD-Politiker. Die KJF leiste gute Arbeit.Zähneknirschend räumt er dann aber ein: "Der Fall Fatma ist gründlich in die Binsen gegangen. Aus meiner Sicht müssen wir alles daransetzen, das Kind wieder nach Deutschland zu holen."

Rückkehr in Pflegefamilie ungewiss

Doch dem steht derzeit vieles entgegen. Die Sachverständige kommt in ihrem gut 60-seitigen Gutachten für das Familiengericht, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, nämlich zu dem Schluss: "Es ist mit dem Kindeswohl vereinbar", Fatma und ihren Bruder "in der Türkei zu belassen". Ein weiterer Aufenthaltswechsel der Kinder werde "deren zukünftige Entwicklung massiv beeinträchtigen und das seelische und emotionale Wohl der Kinder gefährden".

Den Pflegeeltern wiederum bescheinigt die Gutachterin "eine starke emotionale Verstrickung", auch wenn deren "aktuelle emotionale Erregung" auf Grund der Art und Weise des Beziehungsabbruchs zu ihrem Pflegekind "psychologisch nachvollziehbar sei".

Wenn Fatma zu den beiden Menschen in Regensburg - zu denen sie "Mama" und "Papa" sagt - zurückkehre, werde es fraglos zu weiteren Konflikten mit dem leiblichen Vater kommen. Denn der sieht die Zukunft seiner Tochter in Deutschland eher kritisch: Er wolle auf keinen Fall, dass seine Kinder "auf Dauer in einer christlichen Familie aufwachsen", hat er der Gutachterin anvertraut. Die Pflegefamilie habe sich aus seiner Sicht seine Tochter ganz klar "einverleibt".

Im türkischen Internetforum Politikcity wird Fatmas Vater für diese Haltung als Held gefeiert: "Er hat es richtig gemacht, dran bleiben, nicht rausrücken das Kind!", schreibt ein Nutzer namens Saygilar. Und weiter: "Verteidige dein Blut und Fleisch und erziehe es gut, lass es in Freiheit und Würde aufwachsen!"

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