Süddeutsche Zeitung

Energiegewinnung:Wie Bayerns Basilika der Technik entstand

Vor genau hundert Jahren begannen die Arbeiten am Walchenseekraftwerk - trotz großer Widerstände. Während der Bauarbeiten an der Wasserkraftanlage verloren viele Menschen ihr Leben.

Von Klaus Schieder, Kochel am See

Das junge Ehepaar lebte in einer der Baracken, die auf einer Bergwiese nahe der Kesselbachfälle standen. Die junge Frau war schwanger und brachte ein Kind zur Welt, das gleich nach der Geburt starb. In einem anderen Leben hätte sie vermutlich nur Trauer empfunden, aber in den primitiven Unterkünften, in denen sie mit ihrem Mann hauste, spürte sie auch eine große Erleichterung.

Es sei schon besser, dass ihr Baby nicht überlebt habe, sagte sie zu ihrer Ärztin. So schrecklich waren für sie die Umstände, unter denen die 2000 Arbeiter leben mussten, die das Walchenseekraftwerk errichteten. "Das war brutal", sagt Hans Schanderl, der 17 Jahre lang Betriebsleiter in dem Kraftwerk war. Das läuft 100 Jahre nach dem Baubeginn wie eh und je, was Theodoros Reumschüssel weit mehr fasziniert als das bloße Jubiläumsdatum: "Das nenne ich nachhaltig", sagt der Pressesprecher der Uniper Kraftwerke GmbH.

Der Erste Weltkrieg war gerade erst zu Ende, als die Arbeiten am 25. November 1918 begannen. Als "Baraber" titulierten die Einheimischen halb abschätzig, halb ängstlich die aus Deutschland und Österreich angeheuerten Tunnelarbeiter, viele kamen aus verarmten Dörfern in der Oberpfalz. Ihr Leben war knochenhart: Noch ausgemergelt vom Krieg, mussten sie oft nur mit Schaufeln, Spitzhacken und Schubkarren die Stollen in den Berg treiben, die Holzgerüste boten kaum Sicherheit bei dieser gefährlichen Arbeit. 17 von ihnen verloren ihr Leben.

Die Baracken waren zugig, die Verpflegung miserabel. Immer wieder gab es Streiks. Manchmal kam es auch zu Diebstählen, zu Plünderungen. "Da wurde viel gewildert, wenn die Leute nichts zu essen hatten", erzählt Schanderl, der die Technik und die Geschichte des Wasserkraftwerks wie kaum ein anderer kennt. Als auch noch die Inflation die Löhne drückte, wurden Gutscheine ausgestellt. Für 100 000 Reichsmark, für 500 000 Mark, für 5 000 000 Mark. Einmal, sagt Schanderl, sei ein Lokführer beinahe umgebracht worden, weil er dieses Ersatzgeld zunächst nicht anerkennen wollte.

Die Idee, das Gefälle von rund 200 Metern zwischen dem Walchensee und dem Kochelsee für ein Speicherkraftwerk zu nutzen, stammt noch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bayern war damals ein Bauernstaat. Die ersten Trambahnen wurden von Pferden gezogen, die Lampen in den Häusern und die Straßenlaternen brannten mit Petroleum. Aber die Industrialisierung kam, unaufhaltsam. Und mit ihr die Elektrifizierung. Man brauchte Strom.

Ingenieurbüros in München dachten über ein Kraftwerk am Walchensee nach, zeichneten Pläne. Die wären vielleicht wieder in den Schubladen verschwunden, hätte Oskar von Miller diese Idee nicht mit Sturheit und Schlitzohrigkeit vorangetrieben. "Er hatte das technische Verständnis, er hatte die politischen Verbindungen", sagt Schanderl.

Die Widerstände gegen ein solches Kraftwerk waren stark. "Es gab unvernünftige und vernünftige Argumente", sagt Schanderl. Zu den kuriosen zählt die Legende vom Walchensee-Waller. Das Ungeheuer in der Tiefe mit Augen so groß wie Feuerräder würde sich aus Ärger erheben und Kesselberg zerschlagen, eine "Sündflut" wäre die Folge. Andere Befürchtungen waren weniger utopisch. So glaubte man in Bad Tölz und München, dass der Bau des Wasserkraftwerks üblen Gestank mit sich bringt. Der Grund: Damals wurden Fäkalien noch in die Isar geleitet. Wenn dem Fluss nun Wasser abgezapft würde, flösse er langsamer, die Gülle verdünne dann nicht schnell genug, hieß es. 1926 wurde jedoch das Klärwerk Gut Großlappen für Münchner Abwässer gebaut, drei Jahre später entstand der Ismaninger Speichersee, der mit seinen 80 Fischteichen rundum heute ein EU-Vogelschutzgebiet ist.

Zwei weitere Einwände gegen das Kraftwerk wirken hingegen sehr modern. Das Bauwerk verschandele die Alpenlandschaft und vergraule die Touristen - genau dieses Argument wurde vor vier Jahren auch gegen das geplante und inzwischen auf Eis gelegte Pumpspeicherwerk am Jochberg ins Feld geführt. Außerdem seien die 124 Megawatt Strom viel zu viel, die das Wasserkraftwerk erzeuge. Auch am Jochberg hatte man die Sinnhaftigkeit eines Pumpspeichers infrage gestellt.

Oskar von Miller hielt dagegen, dass der Strom auf ganz Bayern verteilt werde - in einen Ring von Hochspannungsleitungen, der von Passau nach München bis hinauf nach Nürnberg und München reicht. Zudem sollte er der Elektrifizierung der Bahn dienen. Skeptische Politiker, die lieber auf Strom aus Kohle setzten, überzeugte der Bauingenieur und Gründer des Deutschen Museums mit einer kleinen List: Die Sitzungen zum Walchenseekraftwerk begannen um zehn Uhr erst einmal mit Weißwürsten und Bier. Danach waren die Herrschaften etwas benebelt, was die Redelust minderte, als es um die Tagesordnung ging.

Sechs Jahre dauerten die Bauarbeiten am Walchenseekraftwerk. Als es am 24. Januar 1924 anlief, war nur eine Maschine im Einsatz, erst anderthalb Jahre später war wirklich alles fertig. Das Maschinenhaus nahe dem Kochelseeufer gemahnt mit seinen Säulen, Bögen, hohen Fenstern, den vier Francis-Turbinen und vier Drehstromgeneratoren, den vier Pelton-Turbinen und vier Einphasenstromgeneratoren noch immer beinahe an eine Kirche, so eine Art Basilika der Technik.

Die gesamte Anlage mit dem 1200 Meter langen, unterirdischen Einlaufstollen vom Walchensee in das Wasserschloss, den sechs 400 Meter langen Druckrohren, die von dort den Berg hinab in das Maschinenhaus führen, und mit dem Transformatorenhaus ist längst ein Industriedenkmal. Ein beliebtes Ausflugsziel für Schulklassen, Firmen, Architekten, ja sogar Prominente. Einmal wurde zum Beispiel der malaysische Sultan von Selangor in einem Konvoi mit lauter Rolls-Royce über die kurvige Straße zur Anlage chauffiert. Jedes Jahr, sagt Reumschüssel, habe man fast 100 000 Besucher.

Die sehen allerdings mit dem Wasserschloss und dem kathedralartigen Maschinenhaus nur einen kleinen Teil des Systems Walchenseekraftwerk. Zu dem zählen Stollen, Wehre, Schleusen und kleine Kraftwerke, die von der Grenze nach Tirol bis nach Wolfratshausen reichen. Das Kraftwerk, sagt Reumschüssel, sei "eine alte Dame, die eine weitverzweigte Verwandtschaft hat". Strom liefert es, wenn es gebraucht wird, um Ausfälle zu kompensieren oder Verbrauchsspitzen abzufedern.

Das war in den Siebzigerjahren auch einmal der Fall, als Schwergewichtsboxer Muhammad Ali in den USA um einen Weltmeistertitel fightete: Mitten in der Nacht wurden die Turbinen angeworfen, weil die Stromversorgung nicht für alle Fernseher ausreichte. Diese volatile Einspeisung hält Reumschüssel in Zeiten der Solaranlagen und Windkraftwerke für nötiger denn je, um die Energiewende umzusetzen: "Unsere Aufgabe ist es, hochflexibel und schnell die Netzstabilität zu garantieren."

Im Maschinenhaus sind nur wenige Mitarbeiter zu sehen. Früher waren es einmal etwa 80 Beschäftigte, wie Schanderl erzählt. Das war noch zu Zeiten, als das Walchenseekraftwerk zusammen mit dem Kraftwerk Mittlere Isar der Bayernwerk AG gehörte, die Oskar von Miller gegründet hatte. Nach der Privatisierung in den Neunzigerjahren übernahm es erst die VIAG, später der Eon-Konzern mit seiner Tochter Eon Wasserkraft. Seit 2016 wird es von der Uniper Kraftwerke GmbH betrieben.

Schanderl bedauert, dass mit zwei Dutzend Mitarbeitern nur noch relativ wenig Personal da ist, manches bloß durch Fremdfirmen erledigt wird. "Ich bin in das Kraftwerk verliebt", sagt der 69-Jährige. Die Urgroßväter hätten es gebaut, die Enkelkinder würden noch daran verdienen. Aber dann wird der ehemalige Werksleiter deutlich: "Man darf nicht nur auf Gewinn und Ruhm schauen, sondern muss auch auf die Menschen und die Natur achten." Da hätten ihm die Baraber vor 100 Jahren wohl kaum widersprochen.

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SZ vom 05.01.2018/libo
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