Die Geschichte von Sengül Obinger beginnt in einem Saal des Nürnberger Amtsgerichts, es muss wohl im Jahr 1985 gewesen sein. Ihr Vater war angeklagt, weil er sich mit einem Mann geschlagen hatte. Der jungen Sengül, zwölf Jahre alt war sie damals, kam im Gericht eine wichtige Aufgabe zu: Sie sollte die türkische Verteidigungsrede ihres Vaters übersetzen, was nur halb von Erfolg gekrönt war. Zwar sprach sie perfekt Deutsch, der Vater aber wollte, dass seine Rede mit großer Verve zum Vortrag gebracht werde, und eine Zwölfjährige konnte das kaum bewerkstelligen.
Die Anwältin der Gegenseite aber, eine Frau im grauen Hosenanzug, konnte so reden, wie es der Vater gerne gehört hätte. Für das Mädchen ist diese Anwältin zu einem Leitmotiv geworden. Zunächst kamen die Bilder von der Frau mit der Aktentasche nur nachts, später verbrachte die junge Sengül halbe Tage damit, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, so eine Frau zu sein. Ihr Leben allerdings, das musste sie bald einsehen, verlief nach einem völlig anderen Drehbuch.
Ihre Eltern sperrten sie in die Wohnung am nördlichen Rand von Nürnberg, sie sollte sich dort der Hausarbeit widmen. Ins Zentrum ihrer Stadt durfte sie zweimal im Jahr, um mit der Mutter Kleidung einzukaufen. Sie wurde schwer krank, den Abschluss an der Hauptschule schaffte sie nicht. Noch vor ihrem 18. Lebensjahr suchten ihre Eltern einen Mann für sie in der Türkei. Er kam nach Deutschland, dort schlug er sie so lange, bis sie kaum mehr denken konnte. Mit 23, sagt Sengül Obinger, war ihr Leben schon vorbei. Und eigentlich hatte es da noch gar nicht angefangen.
Einschusslöcher an der Decke
Es gibt ein Foto von Sengül Obinger, das sie erklären muss, weil man es sonst nicht verstehen kann. Eine Frau steht in einer Wohnung, im rechten Arm hält sie ein Kind, mit der linken Hand zeigt sie zur Zimmerdecke. Dort sieht man fünf Löcher in der Wand, es sind offenbar Einschüsse. "Diese Frau da auf dem Foto, das bin ich", sagt Obinger. Das Bild ist entstanden am Tag nach dem 7. August 1997. An diesem Tag hatte Rasit D. - der Mann, mit dem sie verheiratet worden war - sie zu erschießen versucht. Sengül Obinger mag das Wort nicht: Ehrenmord. Aber wenn man so will, sagt sie, dann habe sie an diesem Tag den für sie bestimmten Ehrenmord überlebt.
Sengül Obinger, heute 36, sitzt in einem Büro in der Nähe des Nürnberger Rosenau-Parks. Es ist eine schöne Gegend mit vielen renovierten Altbauten, viele Akademiker wohnen hier. Es gibt Situationen, sagt Obinger, da laufe sie einfach durch die Straßen dieses Stadtteils, und plötzlich überfalle sie ein Gefühl, das sie die ersten 23 Jahren ihres Lebens nur als Wort gekannt hat: Glück. Das Gefühl kommt ganz unvermittelt, ohne Anlass. Es geht wohl einfach darum, sich frei bewegen zu können, "einen Hosenanzug tragen und eine Aktentasche in der Hand halten zu dürfen", sagt Obinger. Und es gehe darum, anderen erzählen zu können, wie es möglich ist, sich aus einem Ghetto zu befreien - dass man das schaffen kann.
Dass sich ihre Geschichte für andere Migranten anhören mag wie ein besonders klebrig geratener Kitschfilm aus der Feder von Rosamunde Pilcher, das weiß sie. Obinger erzählt ihre Geschichte trotzdem. Gerade jetzt in der Sarrazin-Debatte. "Wäre Intelligenz eine Sache der Gene, dann würde ich heute nicht hier sitzen", sagt sie. Demnächst will sie in Erlangen Jura studieren.
Es hat nichts mit den Genen zu tun - es ist nur schwierig, wenn man ohne Bildung aufwächst. Obingers Vater ist einer der Männer, die aus Anatolien nach Nürnberg gekommen sind, weil es dort eine Arbeit für sie gibt. Ihre Mutter ist Analphabetin. Gesprochen wird zu Hause immer Türkisch, aber richtig lernt Sengül diese Sprache nicht. Im Urlaub in der Türkei merkt sie, dass sie die Grammatik nicht beherrscht. Auch deutsche Bücher soll sie zu Hause nicht lesen, ihre Mutter hält das Lesen grundsätzlich für überflüssig. In die Innenstadt gehen soll Sengül auch nicht, wer dorthin gehe, sei eine Schlampe, sagt ihre Mutter. Sengül wird nun Friseurin, so will es der Vater.
Als sie den Jungen Rasit das erste Mal sieht, ist sie 13 Jahre alt. Vier Jahre später teilt die Mutter ihr mit, dass sie diesen Jungen aus Ankara demnächst heiraten wird. Drei Wochen vor der Hochzeit kommt Rasit nach Deutschland. Er belegt Kurse, um die Sprache zu lernen. Aber verstehen kann er sein neues Land nicht. Einmal, als seine Frau eine flapsige Bemerkung über einen anderen Mann macht, prügelt er sie durch einen Park.
Seine Frau ist in dieser Zeit schon lange nicht mehr Friseurin, sie bildet sich fort und überredet die Chefs einer Steuerkanzlei, bei ihnen arbeiten zu dürfen. Ihr Mann will zurück in die Türkei, er wird nun immer eifersüchtiger. Als er nicht aufhört, sie und das gemeinsame Kind zu schlagen, reicht sie die Scheidung ein. Vor der Kanzlei prügelt Rasit sie deswegen krankenhausreif. Dann flüchtet er in die Türkei und besorgt sich eine Pistole.
Am 8. August 1997 stürmt der 26 Jahre alte Rasit D. die Wohnung seiner Schwiegereltern in Nürnberg. Er schießt auf alle Personen, die sich dort gerade aufhalten, auf seine Schwägerin, seine Tochter, seinen Schwiegervater und seine Ehefrau. Einer der Schüsse schlägt über dem Kopf seiner Frau ein, auf ihre Haare rieselt der Putz. Das Foto, auf dem Sengül Obinger auf ein Loch in der Decke deutet, zeigt den Einschuss. Die Kugeln verfehlen ihr Ziel. Einem Mann gelingt es, Rasit D. mit einer Axt aus dem Haus zu treiben. Noch am selben Tag tötet er sich selbst.
Auch ihr Vater bewundert sie jetzt
Für Obinger beginnt nun die Zeit der Befreiung. Zunächst aber muss sie noch den Fluch von Rasits Familie überstehen. Sie sei eine "Schlampe", hat er seinen Eltern in der Türkei erzählt. Deshalb muss sie auch nach dem Tod ihres Mannes um ihr Leben fürchten. Irgendwann gelingt es ihr doch, ihren früheren Schwiegereltern zu berichten, dass deren Sohn ein Mann war, der Frau und Kind geschlagen hat. Davon hatte er nichts erzählt.
Mittlerweile besucht Obinger ihre früheren Schwiegereltern gelegentlich in der Türkei. Wenn sie von ihrem neuen Leben erzählt, von ihrem Beruf, dem zweiten Kind und ihrem Ehemann, einem deutsch-türkischen Akademiker, dann erntet sie viel Bewunderung.
Auch ihr Vater bewundert sie jetzt, das zumindest hört sie. Ihre Eltern sind inzwischen zurückgekehrt in die Türkei. Weil es immer wieder Ärger gab über den richtigen Weg zu leben, hat Obinger den Kontakt zu ihren Eltern vor zwei Jahren abgebrochen. Von Freunden aber weiß sie, dass vor allem der Vater sehr genau verfolgt, was seine Tochter nun tut. Nach einer zweiten Ausbildung wurde sie vor sieben Jahren zunächst Personalleiterin einer Firma, momentan leitet sie das Büro eines Lohnsteuerhilfevereins. Studieren darf sie nun auch. Und natürlich, sagt sie, wird sie sich im Fach Jura einschreiben. Aktentaschen hat sie sich inzwischen sechs Stück gekauft. "Das ist mein Freiheitssymbol", sagt Obinger.
Möglicherweise schreibt sie demnächst auch ein Buch, so wie Sarrazin. In ihrem, sagt die 36-Jährige, würde es darum gehen, was junge Migranten brauchen: "Bildung, Bildung, Bildung - und mindestens einen Menschen, dem man nacheifern kann." Für sie war das die Anwältin aus dem Gerichtssaal.