Diskussion über Islamismus:"Wir wissen nicht, warum es klick macht"

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  • Wie geht man gegen politischen und religiösen Extremismus vor? Die Kemptener Moscheegemeinde Muhammediye Camii hatte zu einer Podiumsdikussion geladen.
  • Zu der bayernweit einzigartigen Aktion kamen 200 Entscheider und Multiplikatoren aus Politik, Kirche und Gesellschaft.
  • Der Verfassungsschutz schätzt die Zahl der in Deutschland lebenden Salafisten auf etwa 7000, davon etwa 500 gewaltbereit.

Von Sarah Kanning, Kempten

David G. aus Kempten ist 19 Jahre alt, als er in Syrien als selbsternannter Krieger im Kampf für einen radikalen Islam stirbt. Ein schmächtiger Jugendlicher aus bürgerlich-deutschen Verhältnissen, der gerne boxt und gerade eine Ausbildung begonnen hat. Innerhalb weniger Monate entwickelt er sich zu einem islamistischen Fanatiker, einem gewaltbereiten Salafisten. Er kündigt seinen Job, reist nach Syrien aus und wird im Januar 2014 bei Gefechten getötet.

Fast genau ein Jahr nach Davids Tod suchte die Kemptener Moscheegemeinde Muhammediye Camii nun am Samstag mit einer bayernweit einmaligen Aktion die Öffentlichkeit, um darüber zu diskutieren, wie man gegen politischen und religiösen Extremismus vorgehen könnte. Mehr als 200 Entscheider und Multiplikatoren der Region wie der Stadtrat, Berufsschullehrer, Ärzte, Anwälte, kirchliche Vertreter von Diakonie und Caritas, Sozialpädagogen und interessierte Kemptener kommen in den Vortragssaal des Hauses Hochland. Er habe sich anfangs gefragt, sagt Oberbürgermeister Thomas Kiechle (CSU), warum es notwendig sei, gerade in Kempten solch eine Diskussion zu veranstalten.

Denn David G. hatte sich in einer Stadt radikalisiert, die jahrelang dafür gelobt wurde, wie vorbildlich das Zusammenleben ihrer Bürger aus 118 Nationen funktionierte. Eine Stadt, die stolz darauf ist, wie gut Zuwanderer integriert sind, wo sie doch immerhin ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Doch die Propaganda aus dem Internet und die Einflüsterungen von Salafisten aus Nordrhein-Westfalen waren stärker.

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Er verteidigt die Gräueltaten der Terrormiliz IS und rechtfertigt das Köpfen von Journalisten: Nachdem Erhan A. in einem Interview offen über seine Ansichten gesprochen hat, sitzt er nun in Abschiebehaft. Laut Innenminister Joachim Herrmann hat so jemand "bei uns nichts zu suchen".

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Im Herbst wurde dann der 22 Jahre alte Kemptener Erhan A. als radikaler Salafist in die Türkei abgeschoben. Er hatte dem SZ-Magazin gesagt, dass er seine Eltern töten würde, sollten sie sich gegen den Islamischen Staat (IS) stellen. Diese Abschiebung und der Tod von David G. hätten ihm klar gemacht, sagt Oberbürgermeister Kiechle, dass man sich mit Salafismus beschäftigen und über Präventionsstrategien nachdenken müsse: "Wir müssen eng zusammenstehen, wenn Religion dafür benutzt wird, in ihrem Namen zu töten und die Freiheit mit Füßen zu treten", sagt er mit Blick auf die blutigen Anschläge von Paris. Applaus im Saal. Der Oberbürgermeister bittet um eine Schweigeminute.

Darüber, wie Jugendliche vor dem Sog der Terroristen geschützt werden können, wird seit einem Jahr in der Muhammediye-Camii-Moschee in Kempten diskutiert. Hier hatten sich David und seine extremistischen Glaubensbrüder einige Male getroffen, bevor die liberal eingestellten Oberen der Moschee die jungen Männer baten, nicht mehr zu kommen. Die jungen Bärtigen hatten die Betenden provoziert, sie würden den Koran falsch auslegen.

Mehrere Ansätze kristallisieren sich in der Podiumsdiskussion heraus: Die Moschee wünscht sich Unterstützung für ihre Jugendarbeit und mehr Islamunterricht an Schulen, um den Kindern und Jugendlichen Wissen an die Hand zu geben, das sie der islamistischen Propaganda entgegensetzen können. An vier Kemptener Schulen gibt es islamischen Religionsunterricht - in ganz Bayern erhalten ihn von 110 000 muslimischen Schülern gerade einmal zehn Prozent.

Die Vertreter der Kirchen hoffen auf noch mehr Austausch. "Ich bin neulich in die Moschee gegangen, einfach so", sagt Pfarrer Andreas Beutmüller von der katholischen Kirche. "Jetzt lade ich Sie ein, mal in die Kirche zu kommen, um sich das anzuschauen. Da gibt es keine strenge Grenze." Einig sind sich alle: Islamophobie verhindert eine gelungene Integration. Wer sich verteidigen muss, ist eher bereit, radikale Positionen einzunehmen, als wenn ein Dialog besteht.

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Keine andere islamistische Bewegung in Bayern wächst so stark wie der Salafismus - und keine ist schwerer zu greifen. 80 Kämpfer könnten in den vergangenen Monaten nach Syrien gereist sein. Mit dem Verfassungsschutz spielen die Aktivisten Katz und Maus.

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"Verschiedene Zellen müssen ineinander greifen - Familie, Freunde, Vereine, Schulen, Religionsstätten", sagt Peter Hirsch, Kriminalhauptkommissar und Präventionsspezialist. Und wenn sich ein Sohn, ein Freund, ein Partner dennoch radikalisiert? "Man sollte klarmachen, dass die Tür immer offen steht, statt den Kontakt abzubrechen", sagt Hirsch.

Bekir Alboğa, Islamwissenschaftler und Generalsekretär von Ditib, der türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion, die auch die Kemptener Moschee unterhält, sagt: "Man könnte mit solchen Jugendlichen eine Reise machen an die Stätten unserer Religion und ihnen klar machen: Wir sind nicht weniger fromm, auch wenn wir den Islam liberaler auslegen als die Fundamentalisten." Er ist wütend darüber, dass sich die Attentäter von Paris auf den Islam berufen haben: "Wer hat sie beauftragt, die islamische Welt zu verteidigen?", fragt er. "Sie selbst haben sich beauftragt, deshalb kann auch niemand mit ihnen fertig werden", beantwortet er die Frage dann mit einer gewissen Resignation selbst.

Der Verfassungsschutz schätzt die Zahl der in Deutschland lebenden Salafisten auf etwa 7000, davon etwa 500 gewaltbereit. Salafisten geben vor, den Islam der ersten drei Generationen von Muslimen unverändert in der heutigen Zeit zu praktizieren, ihr Ziel ist letztlich die Errichtung eines "islamischen Gottesstaates". Aus den Reihen der Salafisten stammen die terroristischen Kämpfer für den IS und auch die Attentäter vom 11. September 2001.

In Bayern gehen Schätzungen von 570 Salafisten aus, 40 von ihnen reisten in den vergangenen Monaten als Kämpfer nach Syrien aus oder planen die Ausreise. "Religiöser Extremismus ist keine rein islamische Entwicklung", sagt Rainer Oechsle, Beauftragter für den interreligiösen Dialog und Islamfragen der evangelischen Landeskirche. "Religiöse Fundamentalisten werden aus Unbildung Fundamentalisten." Daher sei religiöse Bildung unerlässlich: "Nicht jeder muss glauben, aber jeder sollte ein Mindestmaß an Kenntnissen mitbringen."

Für Siegfried Oberdörfer (SPD), Stadtrat und Vorsitzender des Integrationsbeirats, ist es ein gutes Zeichen, dass die Moscheen sich inzwischen in die Stadtarbeit einbringen: Sie bieten Nachhilfe an und betreuen Flüchtlinge. Da der Salafismus nur eine Facette von vielen sei, die für Jugendliche in Identitätskrisen gefährlich werden können, gebe es an allen Kemptener Schulen inzwischen Sozialarbeiter. Mit der Initiative "Zukunft bringt's" blieb kein Absolvent ohne Ausbildungsplatz. Für den ausgewiesenen Erhan A. nützte das alles nichts. Er war einst Schüler von Realschullehrer Oberndörfer, machte dann eine Ausbildung. "Ein völlig unauffälliger Jugendlicher." Bildung und Beruf seien vielleicht nicht alles. "Wir wissen nicht, warum es Klick macht, wir können das bei einem 15-Jährigen nicht sehen, deshalb stehen wir alle etwas hilflos da."

© SZ vom 12.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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