Süddeutsche Zeitung

Digitale Heimat:Kontakte aus dem World Wide Woid

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Zwei Bayerwaidler haben eine Online-Plattform entwickelt, die Menschen aus ihrer Heimat auf allen Kontinenten miteinander vernetzt.

Von Julia Huber, München

Klischees über den Bayerischen Wald und seine Bewohner kennt Jens Schlüter nur zu gut. Heimatverbunden, ein bisschen hinterwäldlerisch, einfach gestrickt, nicht besonders reiselustig. Wenn sie mal über die Grenze nach Tschechien fahren, zählt das schon als Weltreise. "Schon in frühen Reisebeschreibungen wurden die Bayerwaidler als kraftvolles Naturvolk beschrieben: lustig anzuschauen und ganz nett, aber geistig nicht ganz auf der Höhe", erzählt Schlüter.

Aber wie das mit Klischees nun mal ist, halten sie sich hartnäckig. So hartnäckig, dass mancher Betroffene einen Knacks im Selbstbewusstsein bekommt. Sich gegenüber Großstädtern verstellt oder verschämt seinen Dialekt abzutrainieren versucht.

Schlüter, 38 Jahre alt, gelernter Förster, gebürtig aus Zwiesel, und sein Kollege Christian Zeitlhöfler, 28, halten das für den falschen Weg. Die beiden haben eine digitale Plattform gegründet, die Bayerwaidler auf der ganzen Welt miteinander vernetzt. Der Name ihrer Seite: "World Wide Woid". Die Seite besteht aus einer großen Weltkarte, die anzeigt, in welchen Teilen der Erde diese angeblich wenig reiselustigen Bayerwaidler wohnen und arbeiten.

So kann man erfahren, dass ein Nutzer aus Waldmünchen inzwischen in Vancouver, Kanada, lebt. Eine Nutzerin aus Gotteszell leistet heute humanitäre Hilfe in Dhaka, Bangladesch. Eine weitere hat es von Regen bis nach Tokio, Japan, verschlagen. Und natürlich tummeln sich auch jede Menge Nutzer in der Heimat im Bayerischen Wald. Was ja kein Wunder ist, schließlich leben auch die meisten Menschen dort, wo sie herkommen.

"Uns geht es darum, dass wir uns gegenseitig weltweit besser helfen können", sagt Schlüter über seine Plattform. Das fange bei kleinen Gesten an: "Wenn ich nach Tokio fahre, weiß ich gleich, wer mir ein günstiges Hotel empfehlen kann." Aber Schlüter und Zeitlhöfler geht es auch darum, neue Perspektiven zu eröffnen: Den Bayerwaidlern zu zeigen, wie viele Möglichkeiten sie haben.

Die Macher der Seite sind in ihrer Heimat verwurzelt

"Wenn ein junger Mann in Regen seinen Realschulabschluss macht, kommt ihm vielleicht als erstes in den Sinn, Metzger zu werden", sagt Schlüter und fügt hinzu: "Doch wenn er auf unsere Plattform schaut, merkt er, welche anderen Wege es gibt." Ob als Fotograf in Asien, als kreativer Kopf auf Ibiza oder als Forscher in Berlin: "Andere Bayerwaidler haben es schon vorgemacht."

Schlüter und Zeitlhöfler wollen niemanden aus der Heimat weglocken. Dafür sind sie selbst die besten Beispiele. Schlüter arbeitet vier Tage die Woche im Büro eines Grünen-Landtagsabgeordneten in München, den Rest der Woche verbringt er in Zwiesel und arbeitet von dort aus. Zeitlhöfler studiert im letzten Semester Maschinenbau in München. In seiner Heimat Viechtach hat er einen Kulturverein gegründet, bis vor Kurzem war er noch Dritter Bürgermeister der Stadt. Beide fühlen sich tief im Bayerischen Wald verwurzelt.

Die beiden haben für ihr Projekt einige bayerische Weisheiten und Sprüche gesammelt. Klar, dass Schlüter im Gespräch aus den Vollen schöpfen kann. "Du bringst an Waidler ausm Woid, aber nicht an Woid ausm Waidler", zitiert Schlüter lachend ein altes bayerisches Sprichwort. Da sei was dran, gibt er zu. Deshalb hätten viele Bayerwaidler auch aus der Ferne noch das Bedürfnis, mit der Heimat in Kontakt zu bleiben. Ihre Seite ist erst seit Anfang Oktober online und hat etwa 200 Mitglieder, Tendenz steigend.

Gleichgesinnte in der Ferne

Auf der Plattform kann jedes Mitglied schreiben, womit es anderen helfen könne. Die Bandbreite reicht von Mitfahrgelegenheiten über Reisetipps bis hin zu Jobangeboten und einer Couch zum Übernachten. Die Entwicklungshelferin in Bangladesch schreibt: "Af an Ratsch bin i a imma zum hom." Paul, der in Kanada sitzt und sich selbst als "Bubi" bezeichnet, bietet "vielleicht ein paar Tipps".

Anette aus Bodenmais kündigt an, mit Rechtsberatung helfen zu können. Eine Waldlerin auf Madeira zeigt gern die "Blumeninsel": Im Bayerwald sei es ihr inzwischen viel zu kalt, ihre Liebe zum Schnee merklich abgekühlt. Dann doch lieber das milde Atlantikklima. Schlüter sagt, ein paar Mal habe seine Plattform tatsächlich schon Hilfe leisten können: Eine Nutzerin stellt Seifen her, die andere brauchte Seife für ihre Chalets.

Aber bekanntlich steckt ein Funken Wahrheit in jedem Klischee. Schlüter sagt, ihm sei aufgefallen, dass es viele Waidler irgendwann wieder zurück nach Hause zöge. Entweder, weil sie näher bei ihrer Familie und ihren Freunden sein wollen oder weil sie dort einen neuen Job finden. "Wir haben in der Region ein paar gute Firmen für Mittelständler", sagt Schlüter. "Wir sind breiter aufgestellt, als man eigentlich meint." Vielleicht erkennt das ja auch einer der Nutzer, wenn er im "World Wide Woid" herumsurft: "Möglicherweise hat die Heimat ja doch was für ihn zu bieten." Klischee hin oder her.

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Quelle:
SZ vom 08.12.2017
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