Pop-Festival Digitalanalog in MünchenWo Mensch und Maschine kunstvoll verschmelzen

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Warum „Der Mann mit der Maschine“ sich diesen Künstlernamen gegeben hat, ist offensichtlich.
Warum „Der Mann mit der Maschine“ sich diesen Künstlernamen gegeben hat, ist offensichtlich. (Foto: Digitalanalog)

Künstliche Intelligenz hat die Musikwelt längst im Griff. Digitalanalog, „Münchens audiovisuelles Vorzeigefestival“, gibt Anschauungs- und Anhörungsbeispiele. Vor allem spielen aber auch Künstler mit Leib und Seele multisensorische Konzerte.

Von Michael Zirnstein

Es wäre höchst seltsam, wenn Künstliche Intelligenz ausgerechnet bei „Digitalanalog“ keine Rolle spielen würde. Das Festival ist zwar kein Trend-Schauplatz, spürt aber seit 25 Jahren Strom und Strömungen der Musik auf und nach. Sozusagen vom elektrischen Film-Klangwunderkammer Trautonium der Dreißigerjahre über den experimentierfreudigen Pop der Gegenwart bis eben zur durchcomputerisierten Zukunft. Dass KI aus der Musik nicht mehr wegzubekommen sein wird wie ein Herpesvirus, ist längst allen Pop-Schaffenden bewusst.

Aber muss man deswegen in Endzeitstimmung verfallen? Werden Avatare und Terminatoren den analogen (menschlichen) Komponisten und Instrumentalisten auslöschen? Solche Fragen werden im 25. Jahr beim Jubiläums-Digitalanalog-Fest nicht etwa auf einem Panel von Experten diskutiert. Es geht auch nicht darum, wie die Betreiber von KI-Plattformen die von ihnen ausgesaugten Kreativen urheberrechtlich entlohnen werden. Stattdessen gibt es sehr verschiedene praktische Beispiele, wie sich Künstler gezielt schon jetzt beim Kreativprozess von artifiziellen Hirnen helfen lassen.

Zum Beispiel „UU“. Das ist ein „Human/AI-Hybrid“-Projekt von Sirius Quaint. Für seine analoge Live-Performance zu Texten von Rosa Mars bedient sich der altgediente Musik-Experimenteur auch KI-generierter Inhalte. „Damit thematisiert sich ganz zeitgemäß kompositorische Polyvalenz unterschiedlicher Effekt-/Affekt-Relationen bei gleichem Ausgangsmaterial“, heißt es. Aha. Womöglich ist damit gemeint: Was kann der Computer, was macht der Mensch – der Hörer möge vergleichen.

Diese Konfrontation geschieht aber nicht nur hörend, sondern auch sehend für das Publikum. Denn wie bei Digitalanalog üblich, begleiten jeweils als gleichwertig betrachtete Videokünstler die Konzerte. Und auch diese haben längst KI auf ihren Rechnern installiert. Wie etwa Patrick Aere. Der schweizerisch-Costa-ricanische Medien-Designer mischt in seinen VJ-Sets live handgezeichnete Illustrationen und Animationen mit von KI generierten Bildern für ein „immersives Erlebnis“. Das freilich ist ein völlig anderer Ansatz als von David Althammer alias Daviko, einem Pionier der VJ-Kunst. Der startete 1991 und arbeitet immer noch mit den analogen VHS-Kassetten und Videorekordern und der von ihm entwickelten Video-Orgel „Mrs. Zippy“ von damals, um „eine gewisse Wärme auszustrahlen“.

Die Videokünstlerin Inessenziell begleitet die Konzerte mit Schnipseln aus Retro-Cartons, Kunstfilmen und Pop-Kultur.
Die Videokünstlerin Inessenziell begleitet die Konzerte mit Schnipseln aus Retro-Cartons, Kunstfilmen und Pop-Kultur. (Foto: Digitalanalog)

Bei allen solchen Fragen nach von Technik beeinflusster Machbarkeit und Ästhetik ist Digitalanalog aber ein zutiefst menschliches Musikfestival. Und zugänglicher, als sich das bis hierhin las. Hinter allen Konzepten und Klangideen stehen hier Künstler aus Fleisch und Blut, und hinter dem Festival selbst gar eine leibhaftige Familie, nämlich die Holmeiers: Stefan Holmeier ist der Kurator, Claudia Holmeier ist Motor des Digitalanalog-Vereins, Valerie Holmeier koordiniert die VJ-Sparte und steht als Sicovaja selbst bildgewaltig an den Reglern.

Zusammen haben sie in 25 Jahren „Münchens audiovisuelles Vorzeige-Festival“ geschaffen, wie der Schirmherr, Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, lobt. Die Stadt stellt dem Festival stets die Räume, diesmal wieder das von ihr geförderte Muffatwerk. In allen seinen Ebenen – der in „groß“ und „klein“ geteilten Halle, dem Ampere, dem Café, Studio 1 und 2 – werden wieder Tausende Gäste zwei Nächte lang Konzerte, DJ-Sets und Kunstinstallationen bei freiem Eintritt bestaunen.

Siegertypen:  „Pew Pew Alice“ aus dem Chiemgau liefern humoristische Texte zu jazzigem Funk.
Siegertypen:  „Pew Pew Alice“ aus dem Chiemgau liefern humoristische Texte zu jazzigem Funk. (Foto: Digitalanalog)

Das Herz des Festivals sind die Konzerte. Das sind zum Teil ganz vertraute Darbietungen von Gruppen und Solisten. Zum Beispiel die Bigband Dachau, eine hochenergetische Jazz-Techno-Disco. Eine dicke Show machen auch Pew Pew Alice aus dem Chiemgau, Funk, Beats und Jazz tragen ihre humoristischen, kritischen Texte und Raps. Und es sind viele Münchner Indie-Bands dabei, die ihre Gitarren mal mit mehr, mal mit weniger Synthiesounds kitzeln, etwa die von Radiohead beeinflussten Digital Carbs, King Pigeon, New Rivals, Raketenumschau oder Quirinello, deren Coming-of-Age-Geschichten im Neuen-Neue Deutsche-Welle-Sound die Gen Z gerade feiert, was ihnen mehr als eine Million Streams bescherte.

Dann sind da die Tüftler unter den Songwritern, denen die immer zugänglichere Studiotechnik ganz neue Möglichkeiten eröffnet: Jerryl, Sänger und Gründer der Tydes, hat so sein neues Solowerk „Just Me“ alleine komponiert, eingespielt, produziert, gemixt und gemastert – alles „handgemacht“. Michael Kröger, alias Möbelkröger (Goya Royal, Phil Vetter Band), ging noch einen Schritt weiter, er hat sein ganzes mit der E-Gitarre aufgenommenes Album „Sender Empfänger“ am Computer auseinandergenommen und völlig neu zusammengesetzt, zum Teil sogar rückwärts laufend. Auf die Bühne bringt er die Songs mit Band, so wie auch Samuel Wimmer seinen zauberhaften Indie-Folk. Lisa Fitzek hingegen spielt ihren Folk lieber ganz nah bei sich und ohne Mitstreiter, so wie sie 2016 als Straßenmusikerin begann.

In der „hyperstimulierenden Videoskulptur“ mit dem Titel „Attention Please!“ prasselt es aus 60 Kanälen auf den Betrachter ein.
In der „hyperstimulierenden Videoskulptur“ mit dem Titel „Attention Please!“ prasselt es aus 60 Kanälen auf den Betrachter ein. (Foto: Digitalanalog)

Aber da sind auch die Konzerte, die ohne Technik nicht denkbar wären, wo Sound-Computer aller Arten die Künstler inspirieren und ihnen scheinbar unendliche Klangdimensionen eröffnen, bisweilen amalgieren Mensch und Technik: Der Mann mit der Maschine improvisiert am Modular-Synthesizer-Turm tanzbare Sound-Universen, Dafalgan lässt es „wie in einer kaputten Utopie des Techno“ wummern und die fünf Freunde Maschinenliebe jammen retro auf ihren Elektrokisten. Eshna-Tron (Peter „Arun“ Pfaff und Didi Neidhart) machen die Bühne zum „Diskurs-Labor“, wenn sie mit ihren „Klangmaschinen als Wundermaschinen“ so intellektuell wie fast schon spirituell dem queeren Fake-Indien aus Fritz Langs Film „Der Tiger von Eschnapur“ nachspüren. Was wiederum für ihre(n) VJ-Künstler(in) eine spannende Vorlage bieten könnte.

Im mithilfe von  KI erzeugten Film „Pulse“ wird die Welt vollkommen von Technik gesteuert.
Im mithilfe von  KI erzeugten Film „Pulse“ wird die Welt vollkommen von Technik gesteuert. (Foto: Digitalanalog)

Neben kunstvollen Konzerten gibt es auch klingende interaktive Kunstinstallationen, und davon so viele wie noch nie: Von der auf 60 Kanälen alle Reize überflutenden „hyperstimulierenden Videoskulptur“ mit dem Titel  „Attention Please!“  bis zu einem auf alten Digitalkameras in Japan aufgenommenen „Still Leben“. Oder Michelle Schäfers aus Ton geformte, mit Mosaikspiegeln bestückte Skulptur, die Worte der Gäste einfängt und in farbige Impulse umsetzt.

„Neural Stream“ wiederum simuliert digital Wasser – ausgehend von einem Zitat von Simone de Beauvoir von 1968: „Bald wird uns die Technologie wie die Natur selbst erscheinen …“  Diesen Gedanken spinnt der Film „Pulse“ weiter, in dem zwei Personen, P1 und P2, sich durch eine gänzlich durch Technik automatisierte Welt bewegen. P1 bleibt passiv, P2 hinterfragt, inwieweit in menschliches Leben eingegriffen werden darf. Und das wird letztlich auch der Zuschauer tun – zumal bei der Filmproduktion von „Pulse“ KI eingesetzt wurde.

Digitalanalog-Festival, 10. und 11. Oktober, Freitag 20.30 bis 1 Uhr, Samstag 20.30 bis 3 Uhr, München, Muffatwerk, Eintritt frei, Zeitplan unter www.digitalanalog.org

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