Der Fall Ursula Herrmann: Grauen, das nicht verjährt:Die Jäger folgen der Tonspur

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Neun Anrufe, ein Erdloch, ein totes Kind - 27 Jahre lang ließ das Verbrechen an Ursula Herrmann aus Eching den Ermittlern keine Ruhe. Dank einer Tonspur wähnen sie sich nun endlich am Ziel.

Hans Holzhaider, Augsburg

27 Jahre ist das her! Das Orwelljahr 1984 lag noch drei Jahre in der Zukunft. Helmut Schmidt war Bundeskanzler, Bundespräsident Karl Carstens wanderte durch Deutschland, die Amerikaner starteten zum ersten Mal ihre Raumfähre Columbia, in London heiratete Prinz Charles die 19-jährige Grafentochter Diana Spencer.

"Da sah man dieses arme Würmchen in der Kiste kauern. Das hat mich (...) innerlich sehr, sehr bewegt": Am 4. Oktober 1981 wurde die zehnjährige Ursula Herrmann tot in einem Erdloch nahe des Ammersees gefunden. (Foto: Foto: AP)

Und in einem Waldstück zwischen den Dörfern Eching und Schondorf am oberbayerischen Ammersee räumten am 4. Oktober 1981 um halb zehn Uhr vormittags Polizisten eine 20 Zentimeter dicke, sorgfältig mit Laub verdeckte Lehmschicht zur Seite und stießen auf eine tief im Waldboden vergrabene Holzkiste.

Als sie den mit fünf Riegeln verrammelten Deckel öffneten, sahen sie ein kleines Mädchen, das am Boden der Kiste hockte, die Augen nach oben gerichtet. Wolfgang Eisenmenger, heute Ordinarius für Gerichtsmedizin an der Universität München, erinnert sich genau: "Da sah man dieses arme Würmchen in der Kiste kauern. Ich sehe es noch, als ob es heute wäre. Das hat mich, obwohl ich abgebrüht bin, innerlich sehr, sehr bewegt."

Ursula Herrmann, zehn Jahre alt, am 15. September entführt, war tot, erstickt durch Sauerstoffmangel, weil die Belüftungsanlage, die der unbekannte Kidnapper in das Kistengefängnis eingebaut hatte, nicht funktionierte.

Es war ein Fall, der die Menschen erschütterte wie kaum ein zweiter in Deutschland. Die Vorstellung der Angst und der äußersten Hilflosigkeit, die dieses kleine Mädchen ertragen musste, die schiere Unmöglichkeit, sich einen Täter vorzustellen, der einerseits erbarmungslos genug ist, ein zehnjähriges Kind in einer im Erdboden vergrabenen Kiste einzuschließen, und gleichzeitig in scheinbarer Fürsorglichkeit Kekse, Wasser, Comic-Hefte und sogar ein kleines Radio in das unterirdische Verlies zu legen - Stoff für Albträume.

Ermittler, die verzweifeln

Zum Albtraum wurde der Fall Ursula Herrmann auch für die Ermittlungsbehörden. Verbrechen wie dieses werden fast immer schnell aufgeklärt. Hier aber zog Jahr um Jahr ins Land, und kein mutmaßlicher Täter wurde gefunden. Ein Jahr, zwei Jahre, fünf Jahre nach dem Tod des Mädchens wurden alle Details wieder groß in den Medien ausgebreitet, dreimal berichtete Eduard Zimmermann in seiner "XY-ungelöst"-Sendung, immer wieder kamen neue Hinweise, keiner führte zum Ziel.

Der Fall Herrmann war ein Stachel im Fleisch der bayerischen Polizei, erfahrene Beamte verzweifelten darüber. Und jetzt, nach 27 Jahren, gibt es einen Mann, der im dringenden Verdacht steht, Ursula Herrmann entführt zu haben. Wohlgemerkt - im dringenden Verdacht. Er bestreitet die Tat. Es gibt Indizien, die ihn belasten. Es gibt, bislang, noch keinen eindeutigen Beweis.

Der Augsburger Leitende Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz ist nicht als ein Mann von überschäumender Fröhlichkeit bekannt; am Freitagnachmittag aber strahlt er übers ganze Gesicht und schüttelt jedem Journalisten, der zur Pressekonferenz erschienen ist, persönlich die Hand.

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:Mordfall Ursula Herrmann

1981 wurde die zehnjährige Ursula Herrmann auf dem Heimweg vom Turnunterricht in Eching am Ammersee entführt. 19 Tage später fand die Polizei ihre Leiche in einer im Waldboden eingelassenen Holzkiste.

Kurz und knapp rekapituliert er, was damals geschah: Am 15. September 1981 war Ursula Herrmann mit ihrem Kinderfahrrad von Eching ins benachbarte Schondorf gefahren, um an einer Turnstunde im Sportverein teilzunehmen. Danach besuchte sie noch eine Tante, erst nach einem besorgten Anruf ihres Vaters machte sie sich, schon in der Abenddämmerung, auf den Heimweg. Als sie nicht zu Hause ankam, suchten Vater und Onkel die Strecke ab und benachrichtigten die Polizei. Gegen Mitternacht wurde in einem Gebüsch abseits des Weges das Fahrrad des Mädchens gefunden. Ursula blieb verschwunden.

Am zweiten und dritten Tag nach der Entführung klingelte bei den Eltern neunmal das Telefon. Niemand meldete sich, zu hören war nur ein Rauschen und dann, mehrmals wiederholt, die Erkennungsmelodie von Radio Bayern 3. Am 18. und am 19. September kamen zwei Erpresserbriefe an, aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt, in denen die rätselhaften Anrufe angekündigt wurden.

Zwei Millionen Mark Lösegeld wurden gefordert, die Modalitäten der Geldübergabe festgelegt. Dann gab es keine Kontaktaufnahme mehr. Am 23. September erhielten Ursulas Eltern ein rätselhaftes Telegramm: "Weitersuchen. Raffinierter Plan ermöglicht ihr durchzuhalten." Das Telegramm wurde in Landshut aufgegeben, eine Frau wurde mit Phantombild gesucht, aber die Absenderin konnte nie ermittelt werden. Und dann, 15 Tage nach der Entführung, fand man die vergrabene Kiste mit dem Leichnam des Kindes.

Details über das Loch im Wald

Schon vier Tage später, am 8. Oktober, ging beim Landeskriminalamt ein anonymer Hinweis ein - einer von Hunderten, aber einer, der einen Namen nannte. Man solle sich doch mal den Werner M. vorknöpfen, hieß es. Der Mann wohnte in Eching, keine 300 Meter vom Wohnhaus der Herrmanns entfernt. Er betrieb ein kleines Radio- und Fernsehgeschäft. Er hatte hohe Schulden - die Rede war von 150.000 Mark. Er war ein routinierter Hobby-Handwerker - er hätte also die Kiste bauen können, und er hatte auch die Kenntnisse, um die Antenne an dem Kofferradio so umzubauen, dass das Gerät unter der Erde empfangen konnte.

Zweimal wurde er vernommen, aber er bestritt alles, er bestritt sogar, die Familie Herrmann überhaupt zu kennen, was offensichtlich nicht stimmen konnte. Aber bei einer Hausdurchsuchung wurde nichts Belastendes gefunden, und vor allem: Werner M. präsentierte drei Zeugen, die ihm ein Alibi lieferten. Dagegen hatte die Polizei nichts in der Hand.

Aber im Januar 1982 fanden die Ermittler einen Zeugen, der den Verdacht gegen Werner M. verstärkte. Er habe, behauptete der Zeuge, in M.'s Auftrag ein Loch im Wald gegraben, und er nannte Details, die mit dem Fundort übereinstimmten. Aber dann, sagt Staatsanwalt Nemetz, "ist er umgefallen und hat widerrufen". 1996 ist der Mann gestorben, man kann ihn nichts mehr fragen. Werner M. blieb auf freiem Fuß.

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Die Jahre zogen ins Land. Der Ermittlungsaufwand war immens. Die Bretter, aus denen die Kiste gebaut wurde, jedes Metallteil, jede Schraube, die Wolldecken, die Comic-Hefte, das Radio, alles, alles wurde wieder und wieder untersucht und bis zum Hersteller zurückverfolgt. Einmal geriet ein Sexualtäter in Verdacht, der zwei Mädchen in eine Kiste gesperrt hatte, einmal bezichtigte sich ein anonymer Anrufer selbst, einmal verdächtigte man einen Deutschen, der in Taiwan in lebenslanger Haft saß - alles verlief im Sande.

Inzwischen war es gelungen, aus den mehr als hundert Haaren, die man in und an der Kiste gefunden hatte, winzige DNS-Spuren zu isolieren. Die meisten davon stammten von sogenannten "berechtigten Personen", sprich Ermittlungsbeamten, einige konnten bis heute nicht zugeordnet werden. Zuletzt erregte eine DNA-Spur Aufsehen, die in der Wohnung eines Mordopfers in München gefunden wurde, und die mit einer Spur aus dem Fall Herrmann übereinstimmt - bis heute konnte nicht aufgeklärt werden, wie das zusammenhängt.

Werner M. aber, der Tatverdächtige der ersten Stunde, galt den ermittelnden Polizeibeamten beim Bayerischen Landeskriminalamt immer noch als heißer Tip. Er war inzwischen nach Schleswig-Holstein verzogen; in Kappeln, nahe der dänischen Grenze, betrieb er einen Laden für Bootsbedarf. Im Oktober 2007 erwirkte die Staatsanwaltschaft Augsburg einen Durchsuchungsbefehl, obwohl sie eigentlich nichts Neues gegen M. in der Hand hatte. Man wollte ihn vor allem zur Abgabe einer Speichelprobe bewegen, um sie mit den ungeklärten DNS-Spuren abzugleichen. M. willigte ein, aber das Ergebnis war negativ. Keine Übereinstimmung. Aber man fand etwas anderes. Ein Tonbandgerät, Marke Grundig, ein sehr altes Modell.

"Wir sind doch nicht doof"

Das nahmen die Beamten mit und untersuchten es nach allen Regeln der Kunst. Ein Tonbandgerät hat individuelle, charakteristische Merkmale, die man bei der Wiedergabe von Aufnahmen identifizieren kann, fast so eine Art akustischen Fingerabdruck. Ein Vergleich mit den Aufzeichnungen der "Schweigeanrufe", die nach der Entführung bei den Eltern Ursula Herrmanns eingingen, ergab verblüffende Übereinstimmungen. Im April 2008 erstatteten die Sachverständigen des Landeskriminalamts ihr Gutachten: Das bei M. gefundene Gerät sei wahrscheinlich das, das bei den Erpresseranrufen abgespielt wurde.

Wahrscheinlich. Nicht mehr. Aber immerhin. "Das ist ein ganz gewaltiges objektives Indiz", sagt Staatsanwalt Nemetz. Im Verbund mit anderen Indizien ergebe sich daraus ein "dringender Tatverdacht". Was das für Indizien sind, das will Nemetz nicht verraten. Er will nicht einmal verraten, warum er es nicht verraten will. "Ermittlungstaktische Gründe", sagt er, was Staatsanwälte in solchen Fällen immer sagen. Und auch: "Wir sind doch nicht doof".

Es gibt noch andere Verdächtige, die sollen nicht erfahren, was sie eventuell sagen oder nicht sagen dürfen. Ein Mann allein hätte dieses Verbrechen kaum ausüben können. Derzeit, sagt Oberstaatsanwältin Brigitta Baur, die Sachbearbeiterin, werde gegen drei weitere Personen ermittelt. Zwei der einstigen Alibizeugen - der dritte ist verstorben -, und eine weitere Person, die "dem Beschuldigten nahe steht". Mehr wird dazu nicht gesagt.

Vor zwei Tagen wurde Werner M. in Schleswig-Holstein festgenommen, am 29. Mai wurde er in Augsburg dem Haftrichter vorgeführt, der Untersuchungshaft anordnete. Werner M. sitzt jetzt in der Justizvollzugsanstalt Augsburg. Er bestreitet alles, "mit großer Coolness", sagt Nemetz. Aber er ist zuversichtlich. Man werde ihn kriegen. Es gebe viele Widersprüche in M.'s Aussagen, zwischen damals und heute. Ein paar Mal hat er offensichtlich gelogen.

Es wird für eine Anklage reichen, da ist Reinhard Nemetz sicher. Eine Anklage wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge. Darauf steht lebenslange Haft. Und es wird höchste Zeit für einen Prozess. 2011 wäre das Verbrechen, das Ursula Hermann das Leben kostete, verjährt.

© SZ vom 31.05.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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