Demografischer Wandel:Wie eine Kleinstadt in Oberfranken wieder zu "Ambiente, Luxus und Lifestyle" kam

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Nach Jahren der Stagnation geht es langsam wieder bergauf mit der Kleinstadt. Auch das Schulhaus wird endlich wieder genutzt. (Foto: Sebastian Beck)

Arzberg war eine der Kommunen mit dem heftigsten Bevölkerungsschwund. Doch heute gibt es günstigen Wohnraum und Arbeitsplätze - und damit Zuzug.

Von Sebastian Beck, Arzberg

Wahrscheinlich muss man Kanadier sein, um Arzberg für den Mittelpunkt Europas zu halten. Andererseits: 200 Kilometer nach Prag, 260 Kilometer nach München, 300 Kilometer nach Frankfurt - aus der ganz großen Perspektive betrachtet liegt die Stadt sehr zentral, und nicht nur irgendwo da oben an der Grenze zu Tschechien. Das war auch der Grund dafür, warum ein Geschäftsmann aus Kanada die alte Jugendstilvilla am Ortsrand gekauft hat und auf einer Homepage mit "Ambiente, Luxus und Lifestyle" wirbt, drei Begriffe, die sonst selten im Zusammenhang mit Arzberg fallen.

Noch wuchert Unkraut über dem Eingang. Aber auf dem Foto im Internet haben sie schon mal einen gelben Porsche neben der Ruine abgestellt. Denn bald sollen in dem denkmalgeschützten Haus des Porzellan-Fabrikanten Carl Schumann acht Residenzen entstehen für Leute auch aus Übersee, die zweieinhalb Stunden Autofahrt bis zur nächsten Großstadt für eine kurze Spritztour halten.

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SPD-Bürgermeister Stefan Göcking kann viele solche Geschichten erzählen. Sie handeln alle von der wundersamen Wiederauferstehung von Arzberg in Oberfranken, dem Epizentrum aller demografischen Probleme Bayerns. Wenn es um Bevölkerungsschwund und Überalterung geht, dann gehört der Landkreis Wunsiedel auf Grafiken schon seit Jahren zu den rot eingefärbten Regionen Bayerns und Arzberg wiederum zu den dunkelroten Kommunen im Landkreis.

In den Neunzigerjahren brach hier die Porzellanindustrie zusammen und riss die gesamte Wirtschaft mit sich. Kommunen wie Schirnding und Arzberg versanken in Depression und Arbeitslosigkeit. Allein im Landkreis Wunsiedel gingen zwischen 1993 und 2005 schätzungsweise 12 000 Arbeitsplätze verloren. Die Jungen zogen weg, die Alten hingen den Zeiten nach, in denen noch die ganze Welt aus ihren feinen Tassen den Tee schlürfte. Oberfranken, das war wie ein Stück Ostdeutschland mitten in Bayern. Als die Süddeutsche Zeitung vor vier Jahren über Arzberg berichtete, da saß Bürgermeister Göcking buchstäblich auf einem Trümmerhaufen: leer stehende Häuser im Zentrum, Industriebrachen am Ortsrand. Und die Staatsregierung weit weg in München.

Jetzt sagt Göcking Sätze wie diesen: "Wir sind in der glücklichen Lage, einen Kindergarten bauen zu müssen." Am Dienstagabend beschloss der Stadtrat das Projekt: drei Millionen Euro soll es kosten, und weil Arzberg faktisch immer noch so gut wie pleite ist, werden 90 Prozent aus Fördermitteln beigesteuert. In der Sitzung konnte Göcking noch eine zweite gute Nachricht verkünden: nächstes Jahr zahlt der Freistaat eine Stabilisierungshilfe von 3,13 Millionen Euro an Arzberg, damit die Stadt Schulden tilgen kann. "Dieses Denken, dass da die Bettler kommen, das ist komplett weg", sagt Göcking. "Wir fordern ein, was uns zusteht."

Stefan Göcking ist seit Oktober 2006 als Bürgermeister der Stadt Arzberg im Amt und seitdem meist als Krisenmanager aktiv. (Foto: Sebastian Beck)

Vor vier Jahren, da diskutierten sie in Arzberg noch darüber, ob einer der drei Kindergärten schließen sollte. Die Mittelschule stand zu dem Zeitpunkt bereits leer. Inzwischen ist dort eine Montessorischule eingezogen. Im Münchner Umland stöhnen die Bürgermeister wegen der enormen Kosten für Kindergärten und Schulen. In Arzberg freut sich Göcking über solche Lasten, denn Kinder verheißen Zukunft. Und das Wort Zukunft stand in Arzberg lange gleichbedeutend für Niedergang. Im Jahr 1950 wurden in der Stadt 10 829 Einwohner gezählt, seitdem ging es bergab. Göcking erinnert sich noch an eine Prognose, die für das Jahr 2015 einen Rückgang auf 3000 Einwohner vorhersagte. In Wirklichkeit sind es derzeit 5200 Einwohner, Tendenz gleichbleibend bis steigend.

Karl Döhler, Landrat von Wunsiedel und einst CSU-Landtagsabgeordneter, kennt all diese Statistiken. Nach wie vor schrumpft die Einwohnerzahl in der Region, weil mehr Menschen sterben als geboren werden. Aber die Arbeitslosigkeit ist drastisch gesunken, dafür steigt die Zahl der Zuzüge. "Die Prognosen werden jedes Jahr besser", sagt Döhler. "Es gibt kaum einen, der nicht sieht, dass es vorangeht." Wie aber kam es zu dieser Trendwende?

Zum einen, weil es etliche Firmen wie den Automobilzulieferer Rapa in Selb gibt, dessen Belegschaft von 250 auf 950 Mitarbeiter gewachsen ist. Zum anderen, weil Städte und Gemeinden neuerdings zusammen auftreten, wenn es um ihre Interessen geht. Das hat auch bei der Staatsregierung Eindruck hinterlassen. Nach Jahren des Wegschauens änderte sich mit der Schaffung des Heimatministeriums im Jahr 2013 die Politik. Schon rein geografisch liegt Markus Söders Außenstelle in Nürnberg näher an der Krisenregion. Und Heimatminister Söder - das billigt ihm sogar der Sozi Göcking zu - sei einer, der sich die Probleme geduldig anhöre: "Er macht wirklich viel für die Region."

Für Nordostbayern hat die Staatsregierung ein Programm aufgelegt, das den Abriss von leer stehenden Häusern in den Zentren und die Verwertung der Grundstücke fördert. Das bereitet buchstäblich den Boden für Neues und schafft Nachfrage bei Firmen. Allein im Landkreis Wunsiedel stehen 73 Immobilien auf der Liste, davon neun in Arzberg. Ein günstiges Programm, das aber Wirkung zeigt.

Wenn Göcking mit seinem Elektroauto durch die Stadt fährt, dann deutet er nach links und rechts: Abriss, Sanierung, Abriss, Sanierung. Das Elektrogeschäft, in dem er einst gearbeitet hat - es weicht einem Stellplatz für Wohnmobile. Das baufällige Haus gegenüber - an seiner Stelle entstehen sechs moderne Wohnungen. Draußen auf dem Areal der Porzellanfabrik Schumann - hier baut die Lebenshilfe ein Wohnheim und eine Werkstatt für Behinderte. Die Liste der Projekte erscheint schier endlos lang.

Private Investoren, wie im Fall der Villa, sind allerdings noch eine Seltenheit. Wenn hier jemand als erster die Initiative ergreift, dann der Staat und seine Repräsentanten auf unterster Ebene, in diesem Fall Bürgermeister Göcking, 56, gelernter Elektriker. Ein SPDler, der feine Anzüge trägt, und sich selbst eher links einschätzt. Einen wie ihn könnte die theorielastige Partei in Bayern auch anderswo gebrauchen. Göcking legte in den vergangenen Jahren Beharrlichkeit an den Tag und ging für die Stadt immer wieder finanzielle Risiken ein.

Bisher hatte die Strategie Erfolg. Das hat ihm Respekt eingebracht: "Kein anderer im Landkreis hängt sich so rein. Er muss ja alles selber machen", sagt jemand, der ihn gut kennt. Wie es weitergeht mit Arzberg? "Es wird eine Stadtflucht einsetzen", prophezeit Göcking und meint damit Metropolen wie München. "Bei uns aber gibt es überall Arbeitsplätze und günstigen Wohnraum." Und der Ruf, dass hier in Oberfranken die Katze verreckt sei, der sei sowieso falsch: "Ich könnte jeden Abend in ein Konzert oder ein Kabarett gehen." Bloß dafür hat Göcking keine Zeit.

© SZ vom 28.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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