Bundespolizei Deggendorf:Vier Schüsse, vier Tote, keine Antwort

Bei der Bundespolizei in Deggendorf gibt es auffällig viele Selbsttötungen, und niemand weiß warum - eine Spurensuche.

Max Hägler

Der letzte Tote wurde auf der Rusel gefunden, dem Hausberg der Deggendorfer. Er hatte sich erschossen. Mit der eigenen Dienstwaffe. Wie schon die drei vor ihm. Alle in diesem Jahr. Alle aus der gleichen Kaserne. Am Stadtrand liegt sie, dort, wo bald der Bayerische Wald anfängt. Doch beschaulich ist es hier nicht. Die Bundespolizisten, die hier arbeiten, sind immer dort zu finden, wo es brenzlig wird in Deutschland. Bei Fußballspielen, am Stuttgarter Hauptbahnhof, bei Castor-Transporten im Wendland. Die drei Hundertschaften der Bundespolizei, insgesamt 550 Beamte, sind unterwegs im ganzen Land.

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Bei der Bundespolizei in Deggendorf gab es in den vergangenen Monaten vier Selbsttötungen. Warum? Das weiß keiner so genau. (Archiv)

(Foto: ddp)

Von den 32.000 Bundespolizisten in Deutschland haben sich im Jahr 2010 neun das Leben genommen. Fast die Hälfte der Verzweifelten kam aus Deggendorf. Das sei "auffällig", sagt Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei. Von zunehmender Arbeitsbelastung spricht er auch. Und davon, dass außergewöhnliche Belastungen Selbsttötungen befördern könnten. Drei Reformen mussten die Beamten seit 1992 durchstehen. Eine Studie der Fachhochschule Magdeburg bescheinigte 2008 mehr als 25 Prozent der Bundespolizisten ein Burn-out-Syndrom. Doch trifft das auch auf die Menschen in Deggendorf zu?

Am Mittag des 18. Februar 2010 meldet sich der Vater von Michael S. bei der 2. Einsatzhundertschaft in Deggendorf: Sein Sohn habe gedroht, sich umzubringen. Schnell merken die Kollegen, dass Michaels Zimmer in der Kaserne von innen verschlossen ist. Eine Verhandlungsgruppe und ein Sondereinsatzkommando rücken an. Doch als die Beamten die Tür aufbrechen, ist es zu spät.

Michael S., ein 20-Jähriger mit Irokesenhaarschnitt und oft spöttisch hochgezogenen Mundwinkeln, ist tot. Gestorben durch die Waffe, die er wegen eines bevorstehenden Einsatzes ausgehändigt bekommen hatte. War der Einsatz, die Angst davor, der Grund für die Tat? "Nein, das war nichts Berufliches", sagt der Vater.

Die Polizei ermittelt private Probleme, womöglich Stress in der Beziehung. Wurde der befördert durch die Arbeitsbelastung? "Haben nicht viele Menschen anstrengende Phasen in ihrem Leben?", stellt Pater Gabriel Wolf die Gegenfrage. Der katholische Geistliche betreut von Deggendorf aus rund 4000 Bundespolizisten. Er kannte Michael S. Manchmal hätten den jungen Mann Ängste getrieben, sagt der Geistliche bei der Totenmesse, manchmal sei er tollpatschig gewesen und manchmal verschlossen. Am Morgen seines Todes hatten die beiden noch telefoniert. Nichts hatte der Seelsorger gemerkt. Zur Trauergemeinde sagte er: "Nach dem Tod kommt das Leben."

Doch nur kurz darauf, am 11. März, tötet sich der Polizist Sebastian E. Ausgerechnet "Smiley". So nannten die Kollegen den 28-Jährigen, weil er so viel lachte. "Seine stets fröhliche Ausstrahlung machte uns den Abschied umso schwerer", steht in dem Abschiedsbrief, den Kollegen schrieben. Stolz wirkt er auf dem Foto, das sie für seinen Abschied ausgewählt haben.

Im Hintergrund weht Schwarz-Rot-Gold mit Bundesadler, der Blick geht in die Ferne. Bei der WM 2006 und beim G-8-Gipfel in Heiligendamm war "Smiley" eingesetzt. Ein Zusammenhang mit dem ersten Toten? Die beiden jungen Leute kannten sich, sagt Pater Gabriel. Aber mehr Zusammenhang gebe es nicht. Sebastian E. war in Lübeck eingesetzt, dort erschoss er sich in der Bundespolizeiakademie. Aus privaten Gründen, sagen die Ermittler. Es gibt keine Anzeichen, dass das nicht stimmt.

Hohe Arbeitsbelastung

Zwei Polizisten haben sich getötet. Der Arbeitgeber hätte es bei den Todesanzeigen bewenden lassen können. Doch die Bundespolizei in Deggendorf wollte die beiden Toten nicht abtun als Schwache, als Gescheiterte, die im System versagt haben: Im Juni des Jahres fuhren mehr als 60 Beamte in Zivil mit einem gecharterten Schiff nach Kloster Weltenburg. Pater Gabriel und ein evangelischer Kollege sprachen über Suizid und Trauer. Mit dabei der Leiter der Deggendorfer Einheit, Mario Konjevic. Nach dem ersten Toten hat er angeordnet - gegen den Widerstand anderer Einheiten -, dass seine Leute am Wochenende zu Hause bleiben. Ruhe sollte das den Menschen bringen.

Die Arbeitslast sei hoch und gefühlt noch höher, sagt Konjevic. Gerade wegen der Einsätze am Wochenende. Das mache es schwierig, am Leben von Familie und Freunden teilzuhaben. Aber in vielen Berufen sei das so, auch Krankenschwestern hätten kein Wochenende. "Das spielt alles eine Rolle: die Arbeit, die Familie, persönlichen Einstellungen und Umstände", sagt Konjevic über die Todesfälle. Ihn nimmt das Geschehene mit. "Ich bin Chef, aber auch Mensch", sagt er. Diese Unterscheidung sieht er als Lernauftrag: Es gebe neben dem Dienst Dinge, die genauso wichtig seien. Man dürfe nicht nur den Beamten sehen, sondern auch den Menschen dahinter. Konjevic ist ein ruhiger Mann, früher war er bei der Fliegerstaffel.

"Wir dachten eigentlich, jetzt ist es vorbei", sagte Pfarrer Gabriel nach dem zweiten Toten. Doch im November muss Abteilungsführer Konjevic die nächste Todesanzeige unterschreiben. Diesmal die von Polizeihauptkommissar Michael B. Der 50-Jährige war bekannt am Standort, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit, Teil des Führungsstabs. Beim Castor-Einsatz im Wendland nimmt er sich das Leben. Am Vormittag des 6. November verlässt er sein Büro in Dannenberg, geht auf die Toilette - und erschießt sich mit der Dienstwaffe.

Die Castoren sind zu dem Zeitpunkt noch nicht in Deutschland, aber es herrscht bereits Ausnahmezustand. 16.500 Beamte sind im Wendland, um Sabotagen und Sitzstreiks zu verhindern. Doch viele Polizisten können die politischen Ziele der Demonstranten verstehen. Kam Michael B. in einen inneren Konflikt? "Nein", sagt seine Lebensgefährtin. Sie sagt es entschieden. Bei der Beerdigung hat sie noch von der Belastung des Einsatzes gesprochen, von der Überlastung. "Ich habe inzwischen mit Kollegen Kontakt gehabt, zweimal mit seinem Vorgesetzten", sagt sie. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass die Arbeit nicht ausschlaggebend war. Ihr Freund wollte Perfektionist sein, das schon. Aber gebe es solche Menschen nicht überall, fragt sie. Mitte November wollten sie den Notarvertrag unterschreiben für die gemeinsame Wohnung.

Michael B. betreute ehrenamtlich einen körperbehinderten Menschen, spielte Karten, fuhr mit dem Motorrad zur Wallfahrt nach Altötting. Auf einem Block hatte er ein paar Abschiedszeilen hinterlassen, dort sei keine Rede von Überlastung. "Irgendwann zwischen zehn Uhr und halb elf Uhr hat sich ein Schalter bei ihm umgelegt, wieso auch immer."

Immer noch fährt die Lebensgefährtin in die Kaserne, wenn sie in Deggendorf ist, immer noch machen ihr die Wachen am Tor bereitwillig auf. Pater Gabriel war auch dabei im Wendland, hat gebetet neben dem Toten, geweint. Als der Leichnam weggebracht wurde, kam der oberste Präsident der Bundespolizei, mitten im Einsatz. Der Präsident salutierte. Diesen Respekt hätte es vor 30 Jahren noch nicht gegeben, sagt der Seelsorger.

Und dann der nächste. "Eine Stimme, die uns vertraut war, schweigt" ist nur wenige Tage später in der Zeitung zu lesen. Rainer K., 50 Jahre alt. Ein Vollblutpolizist auch er. Zu Beginn seiner Karriere traf ihn versehentlich eine Kugel in den Bauch, aber er überwand die Verletzung, blieb seiner Einheit treu. "Kindergarten-Cop" nannten ihn die Kollegen, weil er so begeistert Einstellungsberater war. Mit Michael B., dem dritten Toten, betreute er im vergangenen Jahr eine Ausbildungsmesse in Passau.

Polizeihauptmeister war er, im Stab zwar, aber noch mittlerer Dienst. "Fühlte sich Rainer durch den Aufstiegslehrgang in Oerlenbach mit einhergehender Tinituserkrankung nicht auch verunsichert oder entwurzelt?", fragte Pater Gabriel bei der Totenmesse. Eine Antwort gibt es so wenig wie bei den drei anderen. "Ich bin selbst ratlos", sagt die Freundin, mit der Rainer K. seit 13 Jahren zusammen war. Nichts habe er sich anmerken lassen, nie habe er von Überforderung geredet.

Ratlosigkeit. Das ist es, was alle sagen. Die Angehörigen. Die Kollegen. Der Seelsorger. "Wir sind schon relativ weit in der Zwischenmenschlichkeit, das bringt eine Verbandspolizei mit sich, aber wir können immer noch mehr tun", sagt Abteilungschef Konjevic. Aber die Angebote, die Gesprächsmöglichkeiten müssten auch angenommen werden.

Lange nimmt sich Pater Gabriel Zeit, um zu beschreiben, was in diesem Jahr passiert ist. Er ist ein offener Mann, er mag die Menschen. Unten im Hof ist es dunkel, die Polizisten sind wieder im Einsatz, diesmal beim Castor in Lubmin. Die Belastung sei verrückt. "Eigentlich bräuchten wir mehr Polizisten", sagt Gabriel. Aber die Strukturen in Deggendorf seien in Ordnung. Der Pfarrer redet von "wir". Ist er nicht Teil des Systems, trotz des weißen Ordensgewands, das an der Tür hängt, und der Kerzen im Arbeitszimmer? Würde er sagen, wenn es anders wäre? "Ich würde mich um klare Antworten winden, ich tue es aber nicht", sagt er.

Gewerkschafter Radek, der eine hohe Burn-out-Rate bei der Bundespolizei anprangert, ist weit weg vom Geschehen. Aber er sagt: Dem Standort Deggendorf geht es relativ gut, er sei in den letzten Jahren glimpflich davongekommen, im Vergleich zu Standorten an der deutsch-polnischen Grenze. "Ein Grundmuster gibt es nicht. Und vor allem nicht in Deggendorf." Einen Punkt aber gibt es, der alle zusammenführt: Alle hatten eine Dienstwaffe. "Wer keine Waffe mehr tragen darf, hat quasi Berufsverbot", sagt Radek. Wer labil wirkt, dem wird sie sofort abgenommen. "Deswegen versuchen alle, sich keine Labilität anmerken zu lassen", sagt Radek. Möglicherweise gab es auch deshalb keine Hilfeschreie von den vier Polizisten.

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