Süddeutsche Zeitung

Debatte um Heime:"Eingreifen heißt ja nicht wegsperren"

Den Vorwurf hatte der BR aufgebracht: In bayerischen Heimen werden behinderte Kinder und Jugendliche zu oft mit Zwang fixiert. Der Heilerziehungspfleger Andreas Walter wirbt für mehr Respekt im Umgang mit den Betreuten

Interview von Dietrich Mittler

Der Bayerische Rundfunk hatte den Stein ins Rollen gebracht: Zu oft, so berichtete der BR, würden behinderte Kinder in bayerischen Heimen einfach weggeschlossen. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung plädiert der Heilerziehungspfleger und Aggressionstrainer Andreas Walter für einen anderen Umgang mit den jungen Menschen.

SZ: Der Vorwurf, dass in bayerischen Heimen behinderte Kinder weggesperrt werden, hat für erheblichen Wirbel gesorgt.

Andreas Walter: Zu Recht, sage ich. Menschen in so genannten Time-out-Räumen zu isolieren, erinnert mich an veraltete psychiatrische Ansichten. Wir leben im 21. Jahrhundert, da hätten wir eigentlich ganz andere Möglichkeiten als etwa vergitterte, an einen Käfig erinnernde Betten.

Auch jetzt, im 21. Jahrhundert, gibt es behinderte Kinder und Jugendliche, die sich selbst oder andere gefährden.

Hierzu fällt mir folgendes Erlebnis ein: Neulich war ich in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, da ging ein junger Bewohner schreiend in den Keller und warf mit voller Wucht Gegenstände an die Wand.

Sie mussten also eingreifen.

Ja, das musste ich. Aber Eingreifen heißt ja nicht wegsperren. Nach Absprache bin ich zu ihm gegangen und habe gesagt: "Oh, Sie haben ja Angst. Ich heiße Andreas Walter. Wollen Sie meine Hand halten?" Der junge Mann hat gezittert. Ich habe ihm angeboten, ihn in meinem Arm zu halten. Kurze Zeit später hat er sich eine der Wutkeulen aus Schaumstoff genommen, hat damit heftig auf den Boden geschlagen und so seine Angst abgebaut. In kürzester Zeit war er völlig entspannt. Ich war die ganze Zeit bei ihm, um ihm auf eine respektvolle Weise Halt zu geben. Danach konnte ich mit ihm die Ursache für seine Wut ergründen.

Was aber, wenn sich behinderte Jugendliche nicht in den Arm nehmen lassen, sondern ausholen und zuschlagen.

Dann weiß ich mich zu schützen durch uraltes Wissen - etwa durch Techniken aus dem Tai Chi: 2000 Jahre alt und gewaltfrei. Ich gebe solche Methoden in Kursen an pädagogische Mitarbeiter weiter. Noch wichtiger ist es aber, schwer behinderten Menschen in ihrer Krise Halt zu geben. Im Grunde ist ihr Verhalten doch ein Hilferuf. In ihrer Not schlagen sie um sich, ähnlich einem Ertrinkenden.

Gewalt als Hilferuf?

Wenn behinderte Menschen gegen sich selbst oder gegen andere gewalttätig werden, dann resultiert das oft daraus, dass sie ihre Bedürfnisse nicht mitteilen können. Oder auch daraus, dass sie in ihrem seelischen oder körperlichen Schmerz, in ihrer Angst und ihrem Ärger nicht verstanden werden.

Warum aber sollten sich denn Menschen, die seelischen Schmerz empfinden, auch noch körperliche Qualen zufügen?

Sie wollen ihrem Ärger oder ihrer Angst Luft machen, sie wollen sich Hilfe holen. Und gleichzeitig wollen sie sich spüren. Diese Menschen haben starke Angst, sich zu verlieren. Und sich gar nicht mehr wahrnehmen zu können, das ist aus psychotherapeutischer Sicht noch qualvoller, als sich selbst Schmerzen zuzufügen.

Wenn nun Kollegen von Ihnen durch Medikamente oder auch durch Wegsperren solche Handlungen unterbinden, sind die dann die eigentlich Bösen?

Nein, das sind keine schlechten Menschen! Aber viele sind in der Tat mit solchen sehr schwierigen Situationen überfordert. Um es mal deutlich zu sagen: Ich bin behinderten Menschen begegnet, die sich selbst das Augenlicht genommen haben und anderen, die sich schwere Verletzungen zugefügt haben, indem sie ihren Kopf vor lauter Verzweiflung an die Wand geschlagen haben. Wenn manche Pflegekräfte auf die massive Krise eines Heimbewohners mit Wegsperren reagieren, dann geschieht das ebenfalls aus einer sehr großen Not heraus, und weil sie keine Alternativen kennen.

Man könnte auch sagen, aus einer professionellen Distanz heraus.

Natürlich, ich kenne Einrichtungen in denen sehr restriktiv auf Krisen geantwortet wird. Dort wird Mitarbeitern, die das Wegsperren, Ruhigstellen und Isolieren missbilligen, gern mal ein Mangel an professioneller Distanz vorgeworfen. Ich hörte mehrfach von Mitarbeitern, die daraufhin kündigten oder in andere Abteilungen versetzt wurden. Aus meiner Sicht hat das sehr viel mit Zeitgeist zu tun.

Wie meinen Sie denn das?

Empathie gilt in unserer Gesellschaft oft als verweichlicht. Ich erlebe den Anpassungsdruck als extrem hoch. Und das hört in den Einrichtungen nicht auf. Menschen mit Behinderung sind oft einem noch höheren Anpassungsdruck ausgesetzt. Wenn die Rechte der Person stark eingeschränkt sind, kommt es dann zur Eskalation. Manche Institutionen argumentieren damit, dass es zu den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen keine Alternative gibt - weil die Betroffenen sonst sich oder andere heftig verletzten.

Diese Gefahr besteht doch tatsächlich.

Ja, aber ihr ließe sich doch ganz anders begegnen - durch Beistand, Empathie und konzeptionellem Handeln eben. Das bedeutet, dass ich den Menschen vor und in ihrer Krise Alternativen für ihr Verhalten aufzeige. Glauben Sie mir, jeder Mensch ist lernfähig.

Haben die Einrichtungen überhaupt genügend Personal für solche Ansätze?

Das ist sehr unterschiedlich. Insbesondere in der Nacht ist das manchmal sehr heftig, wenn eine Nachtwache für 40 Menschen mit komplexen Behinderungen zuständig ist. Das gehört geändert. Aber manchmal liegt es eben auch an der Einstellung, der inneren Haltung. Die Angst vor Veränderungen spielt hier eine große Rolle. Mir fällt da der Satz einer Pflegekraft ein. Sie sagte: "Diese Gutmenschen-Mentalität habe ich schon im Kindergarten abgegeben."

Sind Sie denn so ein Gutmensch?

Ich kann mit diesem Begriff nicht viel anfangen. Sagen wir es doch lieber mal so: Ich halte einen respektvollen, friedlichen Umgang miteinander für sehr erstrebenswert. Und das Schöne ist: Es gibt unter den Pflegekräften viele, die dafür offen sind und mit hohem Engagement arbeiten.

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Quelle:
SZ vom 11.06.2016
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