Noch kein CSU-Politiker hat Franz Josef Strauß so kritisch beschrieben wie Sie in Ihrem Buch. Haben sich die alten Strauß-Jünger schon gemeldet?
Bisher nicht. Da herrscht Schweigen. Im Übrigen habe ich ja versucht, das Positive und das Negative ein wenig abzuwägen - was gar nicht leicht war. Ich habe Strauß immer bewundert als Redner, als Mann aus dem Volk. Schwierig war es, wenn er plötzlich ausrastete und sich in wenigen Sekunden in ein Bündel von Wut und Aggression verwandelte. Dann war er oft nicht mehr Herr seiner selbst.
Klingt nicht sehr schmeichelhaft.
Das war auch ganz schwierig. Ich habe immer gedacht, ein Politiker muss sich doch vor allem selber beherrschen. Wenn einer so völlig außer Kontrolle gerät, der wird nie ganz oben landen. Und da wollte Strauß ja immer hin.
Woran entzündeten sich die Konflikte?
Manchmal genügten einzelne Worte. Ich habe einmal gesagt: Ach, das ist doch ein Kasperltheater. Da hat er sich fürchterlich aufgeregt. Nimm das zurück, nimm das zurück, hat er mich angebrüllt. Aber meist waren es sachliche Konflikte. Sehr übel genommen hat er auch Solidarität mit Gegnern. Schade, sehr schade.
Konnte Strauß vielleicht einfach nicht ertragen, dass ihm jemand an Bildung ebenbürtig war? Waren Sie nicht ehrerbietig und unterwürfig genug?
Er hatte einen anderen Politikstil als ich. Strauß bezog alles ein, auch die Familie. Bei mir war das Persönliche immer außerhalb der Politik, bei Strauß war es mittendrin. Er hat mir zum Beispiel übel genommen, dass ich bei der Hochzeit seiner Tochter nicht dabei war. Da hat er das ganze Kabinett eingeladen. Die fuhren da mit der Kutsche über den Marienplatz, das ging mir gegen den Strich. Ich habe Politik immer aufgefasst als eine zeitlich befristete Aufgabe. Er dagegen war ein Politiker von Grund auf, ein...
...politisches Tier..
Ja, genau. Das muss man anerkennen. Aber ich muss betonen: Lange Zeit haben wir uns gut verstanden. Aber so von 1982 bis 1986, da wurde es immer schwieriger. Wobei ich das auch ein bisschen seiner Junggarde zuschreibe, die die Konflikte verschärft hat.
Sie meinen Tandler, Stoiber...
Ja, Tandler vor allem, auch Stoiber und Gauweiler. Der ist ja inzwischen auch vernünftiger und anarchischer geworden.
Nun ist ja auch Horst Seehofer ein Politiker, der Politik oft aus dem Bauch heraus macht. Entdecken Sie da Ähnlichkeiten zum Regierungsstil von Strauß?
Strauß hat sicher manches aus dem Bauch heraus beurteilt. Aber es ging bei ihm dann immer durch einen Filter von Abwägung und Überlegung. Daraus resultierte auch sein Zögern. Strauß war oft hin- und hergerissen zwischen dem Instinkt, der ihn leitete und dem scharfen Verstand, der ihn kontrollierte. Wenn er denn den Verstand zu Wort kommen ließ.
Seehofer ist impulsiver?
Ich glaube, er ist impulsiver. Aber nicht ohne zu kalkulieren. Er macht nicht alles aus dem Augenblick.
Die CSU war früher eine Partei, in der zwar oft heftig die Fetzen flogen, die aber nach außen geschlossen auftrat. Wieso hat die CSU heute diese Stärke verloren?
Das ist nicht nur ein Problem der CSU. Das geht der SPD ähnlich. Die Vielstimmigkeit hat zugenommen. Das führt dazu, dass vor allem die Volksparteien ihre Konturen verlieren. Ich bedaure das.
Was vermissen Sie heute an der CSU?
Beständigkeit, Offenheit gegenüber fremden Anstößen, Vielfalt. Die Partei, die ich erlebt habe unter Goppel und Strauß war sehr vielfältig. Da wurde auch offen geredet. Später, unter Strauß, wurde die Sache dann enger.
Und unter Stoiber noch enger?
Stoiber habe ich ja nur noch als Staatssekretär im Kabinett erlebt. Der erste Streit mit Stoiber betraf die Denkmalpflege. Er hatte kein Gefühl dafür. In seiner Zeit wurde der Etat für Denkmalpflege fast halbiert. Das nehme ich ihm sehr übel. Um Bayern zu erhalten, muss die Denkmalpflege eine starke Stellung haben. Da darf man Dörfer nicht so formlos werden lassen, dass am Ende Oberbayern auch in Arizona liegen könnte.
Nun hat die CSU bei allen Schwächen aber auch den politischen Superstar schlechthin geboren, selbst wenn er inzwischen wieder verschwunden ist: Freiherrn zu Guttenberg. Wie empfinden Sie einen solchen Politikertypus?
Karl-Theodor kannte ich nur von einer Geburtstagsfeier seines Vaters. Er machte einen sehr positiven Eindruck auf mich. Dann kam dieser stürmische Aufstieg. Es ist ja merkwürdig, wir haben heute einen großen Vertrauensverlust vor allem gegenüber den Parteien. Auf der anderen Seite wächst das irrationale Zutrauen zu charismatischen Figuren. Eigentlich nicht gut. Daher war ich von Anfang an etwas abwartend und distanziert. Es überrascht mich nicht ganz, dass dieser Meteor so rasch verglüht ist.
Aber die Causa Guttenberg betrifft nicht nur die Politik, sie ist auch ein GAU für die Wissenschaft.
So etwas hätte es wohl früher nicht gegeben. Man wusste doch, was sich gehört. Natürlich, die Möglichkeiten des Medienzeitalters verführen dazu, Informationen von überall herzunehmen. Bis man dann, um Guttenberg zu zitieren, die Übersicht über die Quellen verliert.
Guttenbergs Doktorvater Peter Häberle ist bitter enttäuscht.
Ich kenne Peter Häberle seit meiner Freiburger Zeit sehr gut, wir sind befreundet. Ich bin froh, dass mir so etwas mit meinen Doktoranden nie passiert ist. Das ist erschütternd. Mich schützt da vielleicht auch meine bäuerliche Skepsis, so ein Grundmisstrauen, das mich immer nachfragen lässt. Meine Frau sagt: Du bist ein ungläubiger Thomas.
Bei den Pisa-Studien hat Bayern bei der Leistung gut abgeschnitten, aber nirgendwo hängt der Bildungsabschluss so sehr von der sozialen Herkunft ab wie hier. Schmerzt das jemanden wie Sie, der aus kleinen Verhältnissen stammt?
Natürlich schmerzt mich das. Da besteht auch Verbesserungsbedarf. Das habe die Verantwortlichen längst eingesehen. Aber es ist schwierig, wenn man den Leistungsgedanken hochhält und gleichzeitig den Zugang zur Bildung ausweitet. Bis 1955 hatten wir nur vier Prozent Abiturienten, heute sind es über 30 Prozent. Die Kunst ist immer, das eine zu machen, ohne das andere zu lassen. Vielleicht ist die Balance auch durch die hohe Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund verloren gegangen. Wir hatten in den achtziger Jahren für die türkischen Kinder über 700 türkische Lehrer angestellt. Damals galt noch die Parole des Europarates: muttersprachlicher Unterricht.
Damals ging man ja auch davon aus, dass die Kinder mit ihren Eltern das Land bald wieder verlassen. Heute will man sie von klein auf integrieren.
Das Ziel damals war die Zweisprachigkeit. Das halte ich für klüger als das Nichts-mehr-wissen-wollen von den eigenen Wurzeln und die jetzt propagierte deutsche Leitkultur. Alles ist plötzlich nur noch deutsch. Ich hielte für klüger zu sagen: Lernt deutsch, aber verlernt euer Türkisch nicht.
Sie sprechen wie der türkische Ministerpräsident Erdogan - und der hat in der Union starke Proteste ausgelöst.
Ja, für den hege ich persönlich durchaus Sympathie. Der Erdogan hat nicht unrecht, wenn er sagt: Integration ja, Assimilation nein. Das finde ich auch. Die Menschen müssen nicht ihre Religion und Sprache an der Garderobe abgeben, damit sie sich integrieren können. Integration heißt: Man nimmt einen Teil des Alten mit und man nimmt Neues auf. Zentral ist, dass man der Rechtsordnung des Landes folgt.
Das werden Ihre Freunde von der CSU nicht gerne hören.
Ich werde immer gefragt: Sie gehören doch auch zur CSU und sind dann wohl auch gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU. Da gebe ich immer zur Antwort: Ich kenne zu viele Türken, um gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei zu sein.
Als ein Auswege aus der Bildungsmisere gilt heute die Ganztagsschule. Hat die Union da nicht aus ideologischen Gründen jahrelang geschlafen?
Ich glaube nicht, dass es ideologische Gründe waren. Wir hatten eine Anzahl von Versuchen mit Ganztagsschulen, und immer haben die Eltern das mehrheitlich abgelehnt.
Aber wir erinnern uns, dass Bayern auf keinen Fall wie die DDR sein wollte.
Kann sein. Die normale bürgerliche Familie wollte am Nachmittag die Kinder in die Klavierstunde oder zur Tanzstunde schicken. Das ist heute das Problem, dass man außerhalb der Schule keine Zeit mehr hat für andere Dinge. Ich sehe ein, dass man mehr Ganztagsschulen braucht, aber ich habe etwas dagegen, dass es nur noch Ganztagsschulen gibt.
Wenn man über das neue G8 spricht, beklagen alle den höllischen Leistungsdruck. Kann eine Schule, an der Eltern und Kinder verzweifeln, wirklich das Modell der Zukunft sein?
Der Leistungsdruck ist zum Beispiel in Frankreich viel höher. Da sitzen 16-Jährige und arbeiten wie in einer Kadettenanstalt. Bei uns ist die Schulzeit ständig geschrumpft. Gleichzeitig drängen in die Schule neue Fächer wie Sexualkunde, Umweltschutz und Wirtschaft. Das erzeugt diese Atemnot.
Muss man nicht den Lehrplan entrümpeln, um Platz zu schaffen für Neues?
Das Wort Entrümpelung ist mir im Ohr seit den siebziger Jahren. Aber damals gab es Autoritäten, die sagten: In Geographie muss man das lernen, aber das nicht. Diese Autoritäten haben wir heute nicht mehr. Das Spezialistentum ist ausgeufert, und alle bestehen darauf, dass ihr Thema das Wichtigste ist. Gerade auch die Lehrer, die nun selbst mitwirken an den Lehrplänen.
Würden Sie sich zutrauen, heute noch mal Abitur machen?
Ich habe ein sehr hartes Abitur gemacht, das französische Zentralabitur. Wir hatten keinen einzigen Prüfer, der uns kannte. Härter kann das heute gar nicht geworden sein. Ich glaube, ich könnte es auch heute noch mal schaffen.
Sie waren immer überzeugter Katholik, aber hatten immer Streit mit dem heutigen Papst über die Schwangerenkonfliktberatung. Bedrückt Sie die Reformunwilligkeit Ihrer Kirche?
Ja, das bedrückt mich. Vor allem sehe ich, wie ein gewisser hierarchischer Geist wächst. Kardinal Brandmüller hat neulich die Laien gerügt, sie mischten sich in die Angelegenheiten der Kirche. Ich weiß nicht, ob der Mann jemals die Kirchenkonstitution Lumen gentium gelesen hat. Dort steht: Alle sind verantwortlich für die Kirche. Alle Getauften, ungeachtet der verschiedenen Ämter.
Die Kirche ist ja nun kein vorbildlich demokratisches Gebilde.
Aber sie könnte von der Demokratie etwas lernen: Dialogfähigkeit. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die Gleichheit aller Getauften und der Respekt der Kirchenoberen vor ihnen. Im bayerischen Landtag haben wir uns oft gefetzt, danach saßen wir wieder beim Schafkopf zusammen. Das muss in der Kirche erst gelernt werden: der Respekt vor der anderen Meinung.
Diesen Mangel an Respekt haben Sie selbst erlebt. Bischof Müller von Regensburg hat Sie aus Kirchenräumen verbannt, weil Sie für die Schwangerenkonfliktberatung Donum Vitae eintreten.
Das ist kleinkariert, und die Argumente sind hanebüchen. Die Lesung sollte eigentlich in einer Buchhandlung stattfinden, die war zu klein. Die Buchhändlerin sagte: Gehen wir ins Diözesanzentrum. Da kam schon der Bannstrahl. Der Bischof sei empört gewesen, dass ich gesagt habe, die Kirche lässt die Frauen im Stich. Mir wird unterstellt, dass ich für die Abtreibung bin, weil ich bei Donum Vitae bin. Dabei geht es doch um die Frage: Wie schützt man die Ungeborenen? Nur mit den Frauen, nicht gegen die Frauen. Das Strafrecht hat sich als unfähig erwiesen, Abtreibungen zu verhindern. Das habe ich auch immer Kardinal Ratzinger gesagt: Nur Deutschland hat eine verpflichtende Beratung. Andere Länder haben nur die Fristenlösung. Wenn ich so polemisch angegangen werde, stelle ich immer die Gegenfrage: Wollt Ihr denn eine reine Fristenlösung ohne Beratung? Ja, dann sind sie verlegen.
Aber die katholische Kirche hat sich aus der Schwangerenkonfliktberatung längst verabschiedet.
Die Kirche hätte nie den Ort freiwillig verlassen dürfen, den ihr der Gesetzgeber eingeräumt hat. Das tut man auch nicht, ohne mit den Evangelischen zu reden. Alle Diözesen geben zu, dass bei ihnen keine Konfliktberatung mehr stattfindet. Nur noch bei Donum Vitae findet katholische Konfliktberatung statt. Zu meinem Geburtstag habe ich mir Geschenke verbeten, aber um Spenden für Donum Vitae gebeten.
Dann wird Sie der Bischof auch beim nächsten Mal nicht reinlassen.
Das werde ich ertragen. Noch darf ich Orgel spielen und Kirchensteuer zahlen.
Interview: Peter Fahrenholz und
Annette Ramelsberger