Er hat sich dick eingepackt, die dunkle, altmodische Mütze auf, mit der kein Designerwettstreit mehr zu gewinnen wäre, dazu die braune, warme Schöffel-Jacke, und obendrüber Helm und Weste. Schließlich sind wir auf einer der aufregendsten Baustellen Europas. Viel Schnee, eisige Kälte, schroff aufsteigende Berge, um Horst Seehofer herum wuseln Delegations- und Presseleute, und dann sagt der Ministerpräsident es noch einmal: "Ein bisschen mehr Schweiz würde uns Bayern guttun."
Zwei Tage lang variiert Seehofer diesen Satz während seiner Reise durch die Schweiz, er ist mehr als nur eine Höflichkeitsfloskel. Wo immer er auf Schweizer Gastgeber trifft, ob oben in der Bergwelt im Schnee beim Ausbau des Wasserkraftwerks Linth-Limmern oder später in Bern bei formellen Gesprächen mit Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf und Ständeratspräsident Hans Altherr - stets sind sich die Bayern und die Schweizer in einem schnell einig: Die Beziehungen der beiden Alpenstaaten sind im äußersten Maße problemlos.
Das, scherzt Seehofer, sei wohl auch der Grund dafür, dass bislang gar niemandem so richtig aufgefallen ist, dass noch nie ein bayerischer Ministerpräsident offiziell in der Schweiz war. "Harmonischer könnte es gar nicht laufen", schwärmt der Ministerpräsident und erstickt die Frage, ob man denn dann überhaupt in die Schweiz fahren müsse, vorsorglich im Keim: "Auch so etwas will gepflegt sein."
Deswegen ist viel Zeit, nachdenklich zu werden, Grundsätzliches zu überdenken. Seehofer hat das Thema Bürgerbeteiligung im größeren Maßstab entdeckt, dafür gibt es kein besseres Umfeld als das Erfinderland der direkten Demokratie. Dem bayerischen Volk will er schon seit längerem Verfassungsänderungen zur Abstimmung vorschlagen, und "auf kommunaler Ebene läuft es perfekt" mit der Bürgerbeteiligung, sagt Seehofer. Nun will er höher hinaus: "Nach der nächsten Bundestagswahl werden wir das Thema Volksentscheid bundesweit angehen." SPD und Grüne kommentieren es von zu Hause aus ungläubig, weil sie das schon längst gefordert haben. Doch so etwas ist Seehofer traditionell egal, er verfährt auch in der Schweiz nach seinem Standardmotto: Auf der Tagesordnung ist ein Thema dann, wenn ich es drauf setze.
Bei vielen Gesprächspartnern fragt Seehofer immer wieder nach, wie es mit der Bürgermitsprache funktioniert, auch als er hoch oben in den Bergen im Glarnerland die spektakuläre Wasserkraft-Baustelle besichtigt. Ein System aus bergmännisch errichteten Stollen und Riesenhöhlen (in die selbst die Münchner Frauenkirche passen würde, wie die Schweizer selbstbewusst anmerken) soll dort drei Seen zu einem Pumpspeicherwerk verbinden, das Strom vorhalten kann. Als "Batterie Europas" sehen sich die Planer im Kanton Glarus. Das beeindruckt Seehofer, vor allem, als er mit dem Hubschrauber an den Bergwänden vorbeiknattern darf und die Baustellenlogistik von oben bewundern kann: Die funktioniert ausschließlich über Schwerlastseilbahnen, weil es hier auf bis zu 2500 Metern Höhe keine Straßen gibt.
Doch fast genauso bemerkenswert findet der verwaltungsgestählte Seehofer, dass ein solch ambitioniertes Projekt wie am Schnürchen ohne einen einzigen Bürgereinspruch über die Bühne geht. Seehofer denkt an die großen bayerischen Projekte wie die Münchner Flughafenstartbahn, den Donauausbau oder die für die Energiewende nötigen Windräder - und dann ist es wieder da, das Schweiz-Gefühl: Von den Eidgenossen könne man lernen, dass es sich auszahlt, die Bürger nicht erst am Ende, sondern am Beginn einer Planung zu fragen. "Das sage ich auch den Bürgermeistern immer", erklärt Seehofer - und genau das laufe in Bayern häufiger falsch, etwa beim Olympia-Bürgerentscheid in Garmisch-Partenkirchen.
Baustellen überall, reale und politische, und es werden immer mehr: Seehofer denkt in der Schweiz an vieles: das Aufkommen der Piraten, das veränderte Lebensgefühl in vielen Familien, die anstehenden Wahlen, an Europa, den Euro und die Modernisierung der eigenen Partei. Immer wieder kommt der Regierungschef dabei aufs Eidgenössische zurück: "Was hält uns eigentlich davon ab, die Bevölkerung noch stärker zu fragen?" Doch vor der weiteren Helvetisierung Deutschlands steht Überzeugungsarbeit, weiß Seehofer, etwa bei Kanzlerin Angela Merkel. Bei ihr sei "die Begeisterung nicht so ausgeprägt wie bei mir", lächelt Seehofer.
Zum Abschluss der Reise spannt der Ministerpräsident den Bogen noch weiter: über ganz Europa. In der Universität Zürich hält Seehofer eine Rede über die Perspektiven für Europa, am selben Platz, wo Winston Churchill 1946 eine Europarede hielt. Seehofer rühmt die demokratischen und humanistischen Traditionen der Eidgenossen. Und Seehofers Schlusssatz hätte man eigentlich erraten können: "Ein bisschen mehr Schweiz würde uns in Europa guttun."