Wallfahrten zu Coronazeiten:Nichts geht mehr

Start der größten Fußwallfahrt Deutschlands

Bei der größten Fußwallfahrt Deutschlands gehen Gläubige in drei Tagen zum 111 Kilometer nach Altötting.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Ausgerechnet Wallfahrten, mit denen seit Jahrhunderten Krisen und Seuchen überwunden werden sollten, werden vom Coronavirus gestoppt. Doch das Ende der religiösen Praxis bedeutet das nicht - der Technik sei Dank.

Von Hans Kratzer, Regensburg

"Es ist wirklich ein Dilemma, das uns ratlos macht", sagt Prälat Günther Mandl, der Wallfahrtsrektor von Altötting. "All das, was den Menschen in einem Ort wie Altötting Heil und Segen bringen soll, geht plötzlich nicht mehr." Das Coronavirus hat auch die Wallfahrten beendet, die für viele die letzte Instanz in Zeiten der Not sind. "Da blutet einem schon das Herz", sagt Mandl mit gepresster Stimme.

Gerade Altötting ist massiv betroffen, es ist ja das Wallfahrtszentrum in Bayern schlechthin, das in Spitzenzeiten jährlich eine Million Menschen aufgenommen hat. Jetzt herrscht dort wie überall gähnende Leere. Und es wird noch lange so bleiben. Die großen Wallfahrtszüge, die von Mai bis August eintreffen sollten, sind abgesagt. Viele davon wurden vor langer Zeit ins Leben gerufen, um mit ihrer Hilfe Krisen und Seuchen zu überwinden. Nun hat ein Virus alles gestoppt, das hat es in der Geschichte noch nicht oft gegeben, eigentlich sollte es umgekehrt laufen.

"Die Absage war die schwerste Entscheidung meines Lebens", sagt der Regensburger Pilgerführer Bernhard Meiler. Jedes Jahr vor Pfingsten führt er die große Regensburger Fußwallfahrt nach Altötting an, in diesem Jahr wäre es am 28. Mai losgegangen. Der dreitägige Marsch gilt als die größte Fußwallfahrt in Deutschland, stets kommen bis zu 9000 Gläubige auf dem Kapellplatz in Altötting an. Der Brauch geht zurück auf das Jahr 1830, in dem sich ein Bauer auf den Weg nach Altötting machte, obwohl den Katholiken in Bayern damals das Wallfahren streng verboten war.

Nur ein einziges Mal vermerkt die Chronik eine Absage der Wallfahrt. "Das war im Kriegsjahr 1941", sagt Meiler. 200 Pilger seien damals losgezogen, nahe Burgweinting sei die Gruppe aber von der Gestapo gestoppt worden. Mit gezückten Schusswaffen erzwangen die Häscher die Auflösung des Pilgerzugs. Einige hätten die Wallfahrt trotzdem fortgesetzt, sie seien heil in Altötting angekommen. Sogar in aussichtsloser Lage ließen sie sich nicht unterkriegen. "Und so wird es auch heuer wieder sein", sagt Meiler, der zusammen mit dem Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer einen kompletten Ausfall der traditionsreichen Fußwallfahrt verhindern will. "Und wenn ma bloß zu dritt gehen, mit zehn Metern Abstand", schlug Voderholzer vor, der sich ein Pfingstfest ohne diese Wallfahrt gar nicht vorstellen kann.

Mit Polizei und Gesundheitsamt habe man das schon abgesprochen, sagt Meiler. Auch Prälat Mandl ist trotz der Kirchenschließungen zuversichtlich: "Für die Regensburg-Pilger finden wir schon eine Lösung." Für Gebetsanliegen wollen die Organisatoren Zettel auslegen. Die werden dann in einem Rucksack verstaut, den der Bischof selber nach Altötting tragen wird. Und Meiler schmiedet schon weitere Pläne. "Wenn es die Lage erlaubt, machen wir uns im Herbst auf eine große Dankwallfahrt nach Altötting."

Seit den 70er-Jahren steigt die Zahl der Teilnehmer ständig. Es verhält sich gerade umgekehrt zur Zahl der Kirchenbesucher, die unentwegt sinkt. Der Boom der Wallfahrten hat nach Meilers Ansicht verschiedene Gründe. "Die einen wollen um etwas bitten, die anderen für etwas danken." Überdies sei es eine beglückende Erfahrung. "Da bin ich mal drei Tage richtig weg, da kann ich total abschalten", diesen Seufzer hat er schon oft gehört. "Vor allem hat man viel Zeit, über Gott und die Welt nachzudenken", sagt Meiler. Dafür riskieren viele gerne Blasen und Schwellungen. Weder diese Qualen noch die Glaubenskrise konnten den Wallfahrten bisher etwas anhaben. Im Gegenteil: Die Zahl der jungen Pilger steigt, obwohl um drei Uhr früh losmarschiert und 111 Kilometer lang gebetet wird. "Das Gebet ermöglicht eine spirituelle Erfahrung, die alle Anstrengungen vergessen lässt", weiß Meiler.

Längst vorbei sind die Zeiten, als eine Wallfahrt Lebensgefahr mit sich brachte. Das ist nur noch auf viel befahrenen Straßen der Fall, die aber, soweit es geht, gemieden werden. Der irische Pilger Coloman geriet einst in einen Hinterhalt und wurde von einer Soldateska an einem Holunderbaum erhängt. Trotzdem triumphierten nicht die Mörder, sondern der gute Coloman: An seiner Leiche geschahen Wunder, die Verehrung nahm ihren Lauf und kulminierte in der Heiligsprechung sowie in Vieh-Wallfahrten wie jener in Schwangau.

Natürlich stärkten Geschichten wie diese die Volksfrömmigkeit. Vor allem in der Barockzeit wucherte der Wunderglaube, sodass bald das ganze Land übersät war mit heiligen Quellen, Wegkapellen und sonstigen Gnadenstätten. Das Volk strömte dorthin, wo sich Wunder zugetragen hatten. Orte wie Andechs verzeichneten im 15. Jahrhundert 40 000 Pilger am Tag, und bald strahlte der Ruhm auch anderer großer Wallfahrtsorte wie Ettal und Altötting in die ganze Welt hinaus.

Wer die ergreifenden Inschriften und Votivbilder studiert, dem begegnet auf Schritt und Tritt der Mensch in seiner existenziellen Not und in seiner dankbar hingenommenen Errettung aus großer Gefahr. Schon im frühen Mittelalter haben die Gläubigen weite und beschwerliche Wege auf sich genommen, um Hilfe zu erheischen. Allzu oft wurden die Menschen in Bayern von Katastrophen heimgesucht. Etwa, wenn in den Wäldern der Borkenkäfer wütete, dessen Gefräßigkeit die Menschen hilflos hinnehmen mussten. Jene Orte, in denen sie Hilfe erflehten, haben die Menschen selten vergessen.

Die Wallfahrtskirche Maria Kulm liegt in der Diözese Pilsen, wo der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung so gering ist wie kaum irgendwo auf der Welt. Vor allem aus der Oberpfalz pilgerten vom 14. Jahrhundert Zehntausende Wallfahrer dorthin, ungeachtet der Hussiteneinfälle, des Dreißigjährigen Kriegs, des Naziterrors. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, nahmen die Oberpfälzer die Tradition der Fußwallfahrt sofort wieder auf, mögen auch die Einheimischen ungläubig den Kopf schütteln.

Auch die Bauern von Holzkirchen legten einst ein Gelübde ab. Wenn der Käfer ihre Wälder verschone, so gelobten sie, dann wollten sie der Muttergottes auf dem zwei Tagesmärsche entfernten Bogenberg alljährlich einen mit Wachs umwickelten Fichtenstamm bringen. Auf den letzten steilen Metern darf aber nur ein einziger Mann die 13 Meter hohe Stange senkrecht hinauftragen. Wenn sie umfällt, dann steht Unglück ins Haus, lehrt die Überlieferung. Heuer ist das Unglück schon eingetroffen, bevor die Stange umfallen konnte.

Wenn Wallfahrten nicht mehr möglich sind, so bedeutet das nicht das Ende der religiösen Praxis. Prälat Mandl kann die neue Erfahrung kaum fassen. "Wenn eine Tür zugeht, geht eine andere auf", sagt er frohgemut. Die Messen in der Gnadenkapelle werden zwar vor leeren Betbänken gehalten, aber per Livestream über Youtube hinausgesendet. Fünf Messen am Tag, dazu ein Rosenkranz. Bei jeder Messe sehen bis zu 800 Zuschauer via Bildschirm zu. Überdies bietet Radio Horeb Übertragungen aus Altötting an, die bis zu 200 000 Hörer mitverfolgen. Wenn die Wallfahrer nicht mehr kommen können, dann komme die Gnadenmutter mithilfe der Technik eben zu ihnen, freut sich Mandl. Seitdem erreichten ihn viele Mails und Briefe aus der ganzen Welt. Auch der emeritierte Papst Benedikt habe sich bedankt. "Das ist für uns der Ritterschlag", sagt Mandl.

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