Coronavirus:"Was mache ich mit der Langsamkeit, mit der Leere?"

Gammeln oder Struktur? Wie Familien eine Quarantäne überstehen

Kinder müssen sich in den kommenden Wochen zuhause beschäftigen.

(Foto: dpa-tmn)

Bayern schickt alle Schüler nach Hause. Weil gleichzeitig immer mehr Einrichtungen schließen, fürchten manche Eltern einen Lagerkoller.

Von Anika Blatz, Maximilian Gerl, Anna Günther und Lisa Schnell

Keine Kita, keine Schule. Fünf Wochen lang, mindestens. Claudia Schreier hatte gerade ihre zweijährige Tochter in der Kita abgeliefert, als sie die Nachricht im Radio hörte. "Die ganze Zeit war gar nichts und plötzlich ist zu", sagt Schreier. Sie arbeitet in Teilzeit, kann auch mal daheim im unterfränkischen Partenstein arbeiten. Aber so ganz ohne Hilfe der Großeltern? Langfristig gehe das einfach nicht, sagt sie. Ihr ist bewusst, dass ältere Menschen vor dem Coronavirus geschützt werden müssen. Trotzdem überlegt sie, ihre Tochter zur Großmutter in die Schweiz zu schicken.

Daniela Hüttinger hat in Nürnberg ähnliche Sorgen. Dabei können ihre Kinder allein daheim bleiben, theoretisch. Die Zwillingsmädchen der Hotelchefin sind 13, der Sohn ist 16 Jahre alt. Sie ist flexibel - nun, da Gäste ausbleiben, erst recht. "Es ist kein Betreuungs-, sondern ein Beschäftigungsproblem", sagt Hüttinger. Wie sollen sie die Kinder fünf Wochen lang bespaßen, ohne dass sie "nur am Handy, Fernseher, der Playstation hängen"? Und was ist, wenn die Sportplätze gesperrt werden?

Wer sich am Freitag mit Eltern unterhält, vernimmt erst Pragmatismus - und dann Verzweiflung. Zum einen die Betreuung ohne Großeltern und dann noch der Lagerkoller. Fünf Wochen die Kinder betreuen ohne Freizeitangebote? Wie das gehen soll, darauf hatte auch die Staatsregierung keine Antwort, als sie Freitagfrüh offiziell machte, was viele schon am Donnerstag ahnten. Kurz nach neun betrat Ministerpräsident Markus Söder (CSU) den Raum mit ernstem Gesicht. Er sagte, die Corona-Pandemie sei die größte Bewährungsprobe für das Land seit 70 Jahren: "Wir dürfen nicht nur debattieren, wir müssen entscheiden." Das hat er getan.

Bis zum Ende der Osterferien am 20. April sind in Bayern alle Schulen und Kindertagesstätten geschlossen. Ebenso alle Privatschulen, Berufsschulen, die Kindertagespflege und heilpädagogische Einrichtungen. Danach soll es eine Bestandsaufnahme geben. "Es sind keine Ferien", stellt Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) klar. Für Lehrer gelte weiter die Dienstpflicht, Schüler sollten auch zuhause "etwas Schulisches zu tun haben". Lehrer sollen mit digitalen Medien arbeiten, Unterrichtsmaterial könnte per E-Mail oder mit der Post verschickt werden. Oder über die Onlineplattform Mebis, dafür könnte die Serverleistung hochgefahren werden. Prüfungen finden während der Schulschließung nicht statt.

Söder und Piazolo versuchen, die Abiturienten zu beruhigen. Mit den anderen Bundesländern sei vereinbart, bei den Hochschulzulassungen Rücksicht auf die Situation zu nehmen. Man überlege, einen weiteren Nachprüfungstermin anzubieten und entwickele schon Aufgaben dafür, sagte der Schulminister. Und es sei ja nicht so, "dass man in den letzten zwei, drei Tagen das Wissen erwirbt, dass man im Abitur braucht". Schulleiter berichten dagegen von Schülern in Panik, die erst einmal beruhigt werden mussten.

Auf die Frage, wo in den nächsten drei Wochen bis zu den Osterferien die Kinder abgegeben werden sollen, hat Söder eine "klare Empfehlung": "nicht bei Oma und Opa". Ältere Menschen müssten besonders geschützt werden. Nur, wohin dann mit den Kindern? In Bayern gehen laut Angaben der Ministerien 1,7 Millionen Kinder in die Schule und 570 000 in die Kita.

Um die öffentliche Ordnung aufrechtzuhalten, soll es eine Notfallbetreuung geben. Eltern mit systemrelevanten Berufen dürfen ihre Kinder weiter in die Schule oder ihre Kita schicken, also etwa Ärztinnen, Krankenpfleger oder Polizisten. Allerdings nur, wenn sie Alleinerziehende sind. Sonst müsse der andere Elternteil übernehmen. Alle anderen dürften Schule oder Kitas nicht betreten. Wessen Kinder betreut werden, soll auf der Homepage des Kultusministeriums zu erfahren sein. Angebote gebe es nur für Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse, alle anderen seien alt genug, sich selbst zu beschäftigen, sagte Piazolo.

"Das kann ein Elternteil alleine nicht stemmen"

Natürlich sollten Kinder auch außerhalb der Schule nicht in großen Gruppen zusammenkommen. Um so eine "Heimbetreuung" hinzubekommen, brauche es "Solidarität", "Nachbarschaftshilfe" - und generöse Arbeitgeber. Piazolo appellierte an Unternehmen, Eltern ihre Kinder zuhause betreuen zu lassen. Söder will auf Bundesebene über Regelungen zur Lohnfortzahlung sprechen. Dann bittet er noch um Verständnis. "Es wird auch ein bisschen ruckeln in den ersten Tagen an den Schulen und Kitas." Ruckeln, klar. Aber wie sollen Eltern das denn nun machen mit der Betreuung? Ferien seien ja nichts Ungewöhnliches, sagt Söder. Man müsse jetzt die "normale Ferienplanung" aktivieren.

Sozialministerin Carolina Trautner (CSU) empfiehlt, im Zweifelsfall Urlaub zu nehmen. Debora Pihan, 35, nennt das erst einen "Skandal" und dann, als die Aufregung sich gelegt hat, zumindest "grenzwertig". Natürlich verstehe sie, dass gerade Ausnahmezustand herrsche, aber dafür könne doch niemand etwas - und: "Urlaub ist doch eigentlich zur Erholung da." Sie selbst wird wohl keinen Urlaub nehmen, Pihan ist Krankenpflegerin, also "systemrelevant". Ihr Mann kümmert sich um die sechsjährige Tochter.

Sein Arbeitgeber ist kulant, er kann von zu Hause arbeiten und bekommt sein Gehalt weitergezahlt. Aber fünf Wochen? "Das kann ein Elternteil alleine nicht stemmen", sagt Pihan. Die Großeltern seien natürlich raus. Und wie das gehen soll, wenn sie Nachtschicht hat, weiß sie auch noch nicht. Eigentlich müsste sie tagsüber schlafen, nur mit einem Mann und einem Kind zuhause? "Das wird schon eine extreme Belastung für die Familie", sagt sie und fährt erst einmal los, Bastelsachen kaufen, damit es ihrer Tochter zuhause nicht zu langweilig wird. Wie Kinder am besten von zuhause lernen können, dafür hat Markus Enghofer, Schulleiter des Carl-von-Closen-Gymnasiums in Eggenfelden, zusammen mit Kollegen Tipps verfasst.

558 Corona-Fälle

Das war der aktuelle Stand der bestätigten Corona-Infektionen in Bayern am Freitag um 13 Uhr. Zum Vergleich: eine Woche zuvor waren es in ganz Bayern 116 Fälle. Aktuelle Daten sind auf der Homepage des Landesamts für Gesundheit abrufbar. In der Stadt München gab es mit 146 Fällen die höchste Zahl von Erkrankten, in Nürnberg waren es dagegen nur 19. Auch der Landkreis Freising ist mit 51 gemeldeten Fällen besonders stark betroffen.

Die Kinder sollten zwei Stunden am Tag für die Schule verwenden, um im Takt zu bleiben, sagt er. Mehr hält er für unrealistisch. "Wir können froh sein, wenn zehn Prozent des üblichen Pensums geschafft werden", bestätigt ein anderer Schulleiter. Viele Lehrer setzen auf digitales Lernen, von dem dazu entwickelten Schulnetzwerk des Kultusministeriums Mebis allerdings halten einige nicht allzu viel. "Das Mebis-System können Sie vergessen. Das bricht so schnell zusammen, so schnell können Sie gar nicht Mebis sagen", sagt ein Lehrer aus der Oberpfalz. Auf den nun anstehenden Masseneinsatz ist das System offenbar nicht ausgelegt. Auch Enghofer aus Eggenfelden will sich nicht darauf verlassen und hat sich ein eigenes Programm angeschafft.

Niemand könne erwarten, dass Mebis sofort funktioniere, sagt dagegen Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrerverbands. Wie die Vorsitzenden der anderen Lehrerverbände schätzt sie die klare Ansage der Staatsregierung. Sorgen bereitet ihr allerdings "die Reduziertheit des Lebens" und dass Eltern nun wochenlang mit ihren Kindern allein sind. "Was mache ich mit der Langsamkeit, mit der Leere? Wie erkläre ich die Alltagsfragen der Kinder, die man gern an die Schulen abgegeben hat?", sagt Fleischmann. Das werde noch spannend. Martin Löwe, Chef des Bayerischen Elternverbandes, fragt sich, wie Eltern verhindern sollen, dass Jugendliche sich in großen Gruppen treffen.

Von der Opposition gibt es ausnahmsweise fast ausschließlich Lob. Notwendig und begrüßenswert seien die Schließungen von Schulen und Kindergärten, teilen SPD und Grüne mit, zusammen mit einem großen Aufruf zur Solidarität. "Arbeiten wir gemeinsam daran", so der Appell von Katharina Schulze von den Grünen.

Bei allem Lob kritisiert die SPD allerdings "eine große Belastung für alle Eltern". Zurück in die Staatskanzlei: Nach all den Appellen seiner Minister, will Söder noch etwas loswerden. "Es tut mir leid", sagt er an all die Eltern gerichtet, die jetzt keinen Betreuungsplatz mehr haben. Aber eine Blaupause gebe es nun mal nicht für so eine Situation. Eine Botschaft aber solle ankommen: "Wir geben uns Mühe."

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