Süddeutsche Zeitung

Eltern und Corona:Von wegen Corona-Ferien!

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Die eigentliche Herausforderung für Eltern in Zeiten von geschlossenen Schulen und Home-Office beginnt, wenn die Mail von der Lehrerin kommt.

Kolumne von Nadeschda Scharfenberg

Just in diesem Moment kommt eine Mail von der Englischlehrerin, Betreff: Zeitplan, Anhang: zeitplan.pdf. "Da manche von Ihnen sich - verständlicherweise - damit überfordert fühlen, den Stoff, den ich aufgelistet habe, selbst in Portionen einzuteilen, habe ich Ihnen hier noch einen Wochenplan angehängt."

Herzlich willkommen in den Corona-Ferien! Während Philosophinnen und sonstige Berufene in Fernsehtalksesseln abhängen und Ratschläge für entschleunigte Zeiten erteilen ("Die Radikalunterbrechung der Realität eröffnet neue Denkräume"), wird der Elternmensch zum homo multitaskensis. Entschleunigung? Selten hatte der Alltag mehr Tempo, gefühlt: Schleudergang mit 1600 Umdrehungen pro Minute. Der Übergang vom Rotieren zum Durchdrehen ist fließend.

Der homo multitaskensis wuppt neben seinem Beruf, den er mangels Kinderbetreuung in Jogginghose im Home-Office erledigt, diverse weitere: den des Lehrers oder der Lehrerin aller Fachrichtungen und bei ungünstiger Altersverteilung des Nachwuchses auch noch den der Kindergärtnerin.

Statt neue Denkräume zu öffnen, kramt er sein angestaubtes Schulwissen hervor, um die Zeit zwischen Videokonferenz und Abgabetermin sinnvoll zu überbrücken, während das nur halbherzig beaufsichtigte Kleinkind, untermalt von "Anne Kaffeekanne" in Discolautstärke, ein herumliegendes Vokabelheft zerschnippelt. Und die unausgeräumte Spülmaschine blinkt vorwurfsvoll.

Im Tages- oder gar Stundenrhythmus trudelt Schulstoff ein, Gymnasium und Grundschule im Wechsel, ein Kuddelmuddel. Lückentext über Vogelflug. Diktat zum Thema "Wörter mit ä". Les pronoms possesifs. Subtrahieren über die Hundertergrenze. Der Aufstieg Roms zur Weltmacht. Passivbildung im Deutschen. Aufbau des Auges. Present perfect. Ein Frühlingsgedicht von Annette von Droste-Hülshoff. A (Dreieck)=1/2 g · h. Bange wartet man darauf, ob nicht der Kunstlehrer auch noch was schicken möchte? Zeichne ein Wollmammut - so was fehlt noch.

Mit Didaktik-Vorkenntnissen aus dem Jahrhundert des Frontalunterrichts versucht der homo multitaskensis in seinem Heimbüroklassenzimmer zwischen Geschirrstapeln, Laptop und Kinderkanal, das Wissen in die Kindsköpfe zu kriegen. Erkenntnis 1: Der Merkspruch "753 kroch Rom aus dem Ei" ist von vorgestern, funktioniert aber noch. Erkenntnis 2: Motivieren geht über studieren. Erkenntnis 3: Arghhh, vor lauter unregelmäßiger Verben fast den Redaktionsschluss verpasst.

Die Spülmaschine? Ach, blink weiter!

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Quelle:
SZ vom 21.03.2020
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