Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Großer Diskussionsbedarf an den Grenzen

  • Die unterschiedlichen Regelungen für den Corona-Exit sorgen derzeit für einige Probleme an Bayerns Grenzen.
  • Am Donnerstag will Bayerns Ministerpräsident Söder mit seinem Kollegen aus Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, über das weitere Vorgehen diskutieren.
  • Vor allem Pendler haben an den Grenzen zu Österreich und Tschechien mit den uneinheitlichen Corona-Maßnahmen zu kämpfen.

Von Florian Fuchs, Matthias Köpf, Hans Kratzer und Olaf Przybilla

Spielwaren sind seit Montag der neue Verkaufsschlager. "Eltern suchen nach etwas, womit sie ihren Kindern Abwechslung bieten können", sagt Hermann Hutter. Seine Unternehmensgruppe mit Sitz in Günzburg verkauft Bücher, Schreibwaren und eben Spielwaren. Hutter ist bayerischer Schwabe, hat aber auch Geschäfte in Baden-Württemberg, die seit Montag wieder geöffnet haben dürfen, und ist in dem Nachbarbundesland Präsident des Handelsverbands. Kaum einer kennt sich so gut aus, was den Handel in beiden Bundesländern anbelangt. Dass es nun so unterschiedliche Regelungen für den sogenannten Corona-Exit gibt, findet Hutter "unverständlich".

Mit dieser Einschätzung steht der Handelsexperte nicht alleine da. Jedes Bundesland hat andere Regeln, die bayerischen Grenzen erhalten in dieser Zeit wieder eine ganz neue Bedeutung - innerdeutsch und auch zum Ausland hin, mit unterschiedlichen Problemen. Am Donnerstag will sich Ministerpräsident Markus Söder deshalb in Ulm mit seinem Kollegen aus Baden-Württemberg treffen, Winfried Kretschmann. Die Händler setzen große Erwartungen in das Treffen, wie es etwa bei der IHK Schwaben heißt: Sie hoffen darauf, dass die Bundesländer die Entwicklungen angleichen. Und wenn Söder schon dabei ist, könnte er gleich noch in Grenzorten zu Tschechien und Österreich vorbeischauen. Auch dort gibt es großen Beratungsbedarf.

Auf die Spitze getrieben sind die innerdeutschen Debatten in Ulm und Neu-Ulm und im Kreis Main-Tauber. In Ulm etwa ist das Einkaufszentrum Blautal-Center wieder zugänglich: 100 Stores auf 37 500 Quadratmeter, auch wenn noch nicht alle Läden darin geöffnet haben. Ein paar Meter weiter über die Donau hinweg in Neu-Ulm ist alles geschlossen. Das ist, schimpfen Hutter und auch die IHK, nicht nur ein Wettbewerbsnachteil für bayerische Händler. Auch aus infektiologischer Sicht mache das keinen Sinn: Die Läden in Baden-Württemberg seien so noch voller und die Ansteckungsgefahr höher, wie es bereits wochenlang in den Baumärkten der Fall war. IHK-Regionalgeschäftsfüher Oliver Stipar sagt: "Wenn es medizinische Gründe für Regelungen gibt, haben wir Verständnis. Aber wenn die Regelung ein paar Meter weiter nicht gilt, bekommen wir ein Akzeptanzproblem. Das ist gefährlich."

So ist es auch im Main-Tauber-Kreis. Dort wurde im Jahr 2003 nur ein paar Meter entfernt von der bayerischen Grenze das Factory-Outlet-Center Wertheim Village an der Autobahn A 3 eröffnet. Mit mehr als 100 Outlet-Boutiquen zählt es zu den größten Outlet-Standorten in Deutschland. In der kaum 15 Kilometer entfernten unterfränkischen Kleinstadt Marktheidenfeld wächst deshalb die Empörung: Der Betreiber will von Donnerstag an wieder öffnen. Das Unternehmen bezieht sich offenbar auf eine Verordnung der Landesregierung, der zu Folge in Gebäuden mit mehreren, rechtlich voneinander unabhängigen Geschäften jedes Geschäft gesondert betrachtet wird. Nun könnte sogar ein Rechtsstreit drohen, das Landratsamt im Main-Tauber-Kreis hat am Montag den Betrieb des "Village" bis einschließlich 3. Mai untersagt - was den Betreiber aber offenkundig vorerst nicht sonderlich beeindruckt.

Söder und Kretschmann haben viel zu besprechen, unterschiedliche Regelungen zum Einzelhandel gibt es aber auch zwischen Bayern und dem Nachbarland Österreich, wo schon seit einigen Tagen wieder sehr viel mehr Geschäfte geöffnet haben als in Bayern. Die Bundespolizei in Freilassing hat allerdings bisher nicht mit gehäuften Versuchen zu tun, die Grenze nur zum Einkaufen zu überqueren. Als triftiger Grund gelte die Shoppingfahrt nach Salzburg ohnehin nicht, heißt es von der Bundespolizei.

Die sah sich zuletzt jedoch mit Klagen aus Teilen des Bundeslands Salzburgs konfrontiert. Vor allem Menschen aus dem Salzburger Pinzgau beschwerten sich, dass sie nicht zur Arbeit oder zu medizinischen Behandlungen über das sogenannte Kleine deutsche Eck bei Bad Reichenhall in die Landeshauptstadt Salzburg fahren durften und stattdessen mindestes 120 Kilometer Umweg um den südöstliche Zipfel Bayerns herumfahren mussten. Im Österreichischen Rundfunk war gar schon von "Polizeiwillkür" die Rede, weil die schon länger bestehende Ausnahmeregelung für das "Kleine deutsche Eck" von einzelnen Pendlern und Bundespolizisten immer wieder unterschiedlich interpretiert wurde.

Grundsätzlich gelte auch für die Pinzgauer Korridor-Pendler nach Salzburg das derzeitige Transitverbot einschließlich der Ausnahmeregelung für bestimmte Berufsgruppen wie etwa medizinisches Personal oder Polizisten. Allerdings unterscheide sich zuweilen das, was man in Österreich genau unter "Schlüsselarbeitskräften" und in Deutschland unter "systemrelevant" verstehe. Und so mancher Pendler halte sich auch selbst für eine Schlüsselfigur, während das deutsche Bundespolizisten anders sehen. Bis Dienstagnachmittag deutete sich nun eine erweiterte Korridorlösung für die Salzburger Pendler an.

Umwege müssen freilich auch viele normale Berufspendler akzeptieren, die bei der Hin- und Rückfahrt jeweils nur einmal die Grenze passieren - viele kleinere Übergänge sind derzeit geschlossen. Die Liste des Bundesinnenministeriums verzeichnet 32 offene Übergänge nach Österreich, darunter auch Bahnhöfe wie in Freilassing und Salzburg. Die Liste sei allerdings "dynamisch", heißt es von der Bundespolizei.

In Ostbayern ist es die Industrie, die die Auswirkungen der Grenzschließung zwischen Bayern und Tschechien ganz massiv spürt. Immerhin handelt es sich hier um eine der wirtschaftlich stärksten Grenzregionen in Europa. Mehr als 140 Firmen aus der Oberpfalz haben Niederlassungen in Tschechien, und mehr als 12 000 zum Teil hoch qualifizierte Berufspendler überqueren im Normalfall die Grenze nach Bayern. Richard Brunner, Bereichsleiter der Chamer Industrie- und Handelskammer (IHK), die ein Regionalbüro in Pilsen hat, sagt: "Die Wirtschaft in Ostbayern ist ohne tschechische Fachkräfte nicht denkbar." Nun ist dieser Fluss massiv ins Stocken geraten. Die Aussage des tschechischen Präsidenten Milos Zeman, die Landesgrenzen wegen der Pandemie ein ganzes Jahr lang geschlossen zu halten, sorgt deshalb für Beunruhigung in Wirtschaftskreisen.

"Wir hoffen natürlich auf eine Lockerung für Berufspendler", sagt Brunner. Diese nähmen viel auf sich, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten, weite Wege, strenge Grenzkontrollen, Trennung von der Familie. Die Frage ist, ob die tschechische Regierung an diesem Mittwoch tatsächlich Lockerungen für Pendler beschließt. In diesem Fall könnte die aktuell geltende zweiwöchige Pflicht-Quarantäne für heimkehrende tschechische Arbeitnehmer durch einen Corona-Test ersetzt werden. Brunner ist skeptisch. "Wir haben gar nicht die Kapazitäten, um so viele Tests durchzuführen. Ein solcher Plan ist nicht zielführend."

Jaroslava Pongratz, Netzwerkmanagerin Bayern-Böhmen bei der Europaregion Donau-Moldau, blickt von ihrem Büro in Freyung deshalb sorgenvoll, aber doch optimistisch in die Zukunft. "Ich hoffe es sehr, und ich bin auch zuversichtlich, dass sich die Sperre wieder lockern wird", sagt sie. "Es ist doch traurig, im Herbst haben wir 30 Jahre Grenzöffnung gefeiert, und jetzt ist wieder alles zu."

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SZ vom 22.04.2020/kafe
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