Süddeutsche Zeitung

Chor:Die Regensburger Domspatzen räumen mit einem weiteren dunklen Kapitel auf

Der Chor hat erstmals seine Geschichte im Nationalsozialismus aufgearbeitet. Dabei zeigt sich, wie bereitwillig er sich für das antiklerikale Regime einspannen ließ.

Von Johann Osel, Regensburg

September 1938, die Eröffnung des Reichsparteitags in Nürnberg. Die Regensburger Domspatzen sind dabei, die Burschen tragen Uniformen des Jungvolks der Hitler-Jugend. Und sie singen, dazu sind sie eingeladen, das Lied "Wach auf" aus Richard Wagners "Meistersingern". Adolf Hitler war angetan, äußerte er doch den Wunsch, der Chor möge im Folgejahr wieder auftreten.

Der Nürnberger Oberbürgermeister hatte im Auftrag des Führers bereits in Regensburg angefragt - der Überfall auf Polen, der Beginn des Zweiten Weltkrieges, kam dazwischen, der Reichsparteitag fand nicht statt. Seit 1936, als die Domspatzen auf dem Obersalzberg sangen, nicht das einzige Mal, bekamen sie einen "Führerzuschuss", erst 8000, dann 12000 Reichsmark.

Dass die Domspatzen als "besondere Lieblinge" Hitlers gesehen werden können, bestätigt Roman Smolorz. Allerdings könne er das nicht erklären, dafür fehlten ihm die Quellen. Die Gründlichkeit des Historikers spricht hier.

"Die Regensburger Domspatzen im Nationalsozialismus - Singen zwischen Katholischer Kirche und NS-Staat" heißt die Studie, die Smolorz, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der örtlichen Universität, angefertigt hat. Sie ist als Buch am Donnerstag vorgestellt worden - im Beisein von Domkapellmeister Roland Büchner und Marcus Weigl, dem Vorsitzenden des Vereins der Freunde der Regensburger Domspatzen. Der Verein hat die Studie in Auftrag gegeben. Weigl sagt: "Nur wer verantwortungsvoll und sorgsam mit seiner Geschichte umgeht, kann aufrichtig in die Zukunft blicken."

Der Analyse des Innenlebens des Chors 1933 bis 1945 liegt die umfassende Recherche in Archiven zugrunde, von "Pionierarbeit" war die Rede. Im Zentrum dieser Zeit stehen zwei Männer, wichtig ist das Wechselspiel zwischen ihnen: auf der einen Seite Domkapellmeister Theobald Schrems, auf der anderen Martin Miederer, Regensburger NS-Kulturfunktionär und treibende Kraft im Domchorverein.

Dieser war 1925 entstanden, infolge der wirtschaftlichen Lage. Er stand außerhalb der Kirche und kümmerte sich um weltliche Konzerte - als Einnahmequelle, auch für Freiplätze für begabte Buben aus armen Familien. Miederer hatte nach der Machtübernahme die Gleichschaltung des Vereins betrieben; in der Folge stieg der Mann in der Karriereleiter des Dritten Reichs auf, wirkte in einem Ministerium in München, im Reichsministerium schließlich.

Umso mehr versuchte er Einfluss zu nehmen auf den Chor, der eigentlich Sache der Kirche war, wollte die Domspatzen als Propagandainstrument etablieren. Durchaus mit Erfolg. Im Chor selbst gelang es nicht, einen NS-Vertreter zu installieren. Schrems wiederum wird von Smolorz als Künstler beschrieben, der aber "wenig Berührungsängste hatte", wenn es um das Fortkommen und das öffentliche Ansehen des Chors ging.

Der Domkapellmeister vermittelte zwischen Staat und Kirche, war Spielball, machte vor allem so die Domspatzen zum Spielball. Er gab - zumal aus heutiger Sicht - erstaunliche Zugeständnisse an die Nazis, so könnten die Domspatzen 1939 sogar an einem antiklerikalen Propagandafilm mitwirken. Der Erfolg des Chors war letztlich Gewinn für alle Seiten: eine große Südamerikareise zum Beispiel, wo die Knaben für das Reich und zugleich für die Kirche ein gutes Bild im Ausland abgaben.

Smolorz sagt: "Es wurden immer beide Machtzentren bedient." So gab es an Gastorten Auftritte in Gotteshäusern und auch in weltlichen Sälen - egal ob in Rosenheim oder in Montevideo. Sich vollends zu entziehen und die Rolle als Propagandainstrument ganz abzulehnen, wäre nur durch die Auflösung des Chors geglückt. Der Bischof soll das 1933 kurzzeitig erwogen haben.

Mark Spoerer, Professor am Lehrstuhl des Autors, sagte: Bei der Aufarbeitung von NS-Vergangenheit suche man zunächst formale Kriterien wie NSDAP-Mitgliedschaften. Mittlerweile konzentriere sich die Forschung aber mehr auf "Interessen, Motive und Anreizsysteme - und die Handlungsoptionen von Akteuren in einem totalitären System".

Man müsse nicht Nazi gewesen sein, um mit den Nazis zu kooperieren; zentral seien Finanzströme und komplexe Abhängigkeiten unter den Bedingungen einer Diktatur. Auch die Rolle der Knaben wird im Buch beleuchtet, ihre Perspektive erhält ein eigenes Kapitel. Ein Jahrzehnte später befragter einstiger Sänger erinnerte sich an den Obersalzberg, an Hitler, mehr noch aber daran, dass er zum ersten Mal die Alpen gesehen habe.

In Paris schlichen sie sich davon, fuhren Metro; gratis, weil sie auf die Schulterklappen ihrer HJ-Uniformen deuteten und sagten, sie seien Soldaten. Braunhemd statt Chorhemd. Die Kinder nahmen, so Smolorz, die "Bipolarität zwischen Katholisch und Nationalsozialistisch" im Alltag als nahezu selbstverständlich - während die Kluft zwischen Kirche und Staat gewachsen sei.

Mit Blick auf den Missbrauchsskandal der jüngeren Vergangenheit räumt die traditionsreiche Einrichtung also bei einem weiteren dunklen Kapitel auf. In der Pressekonferenz entspann sich am Donnerstag eine Debatte zwischen Forschern, Chorvertretern und Journalisten: Was folgt aus den Ergebnissen? Braucht man vielleicht - auch wenn die Zeiten gänzlich andere sind - einen Kodex, wie mit Anfragen von Parteien umzugehen sei, wie man sich nicht instrumentalisieren lasse? Gibt es Unschärfen im institutionellen Bereich, die sich rächen könnten, falls Personen diese irgendwann ausnutzen wollten?

Die Frage kam nicht von ungefähr. Mehr als 500 frühere Domschüler sind seit 1945 laut Sonderermittler Ulrich Weber Opfer von Gewalt geworden, auch sexueller Art. Der Anwalt hatte im Sommer nach einer zweijährigen Untersuchung des Skandals seinen Bericht vorgelegt. Es ging um einzelne Täter, sie agierten gleichwohl im "System".

Völlig ausgespart wird das Kapitel im Buch des Historikers nicht. Er macht einen Exkurs zum Paragrafen 175, der übrigens erst 1994 vollständig abgeschafft wurde und sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Die "Sittlichkeitskampagne" der Nazis sei auch in Regensburg aufgeschlagen, schreibt der Forscher. So soll Domkapellmeister Schrems im Ruch gestanden haben, einen solchen Fall im Chor - ob Homosexualität oder Pädophilie blieb unklar - toleriert zu haben.

Auch habe Miederer versucht, seinen Gegenspieler mit dem erfundenen Vorwurf der Homosexualität zu diskreditieren. Während der Balkanreise 1940 gab es bei den Betreuern einen Pädophilen, der einen Jungen missbrauchte. Ob der Fall Schrems zugetragen wurde, ist ungeklärt. Schrems soll einem Vater, den "sittliche Verfehlungen" angesichts der "Sexualnot der Jugend (Onanie)" im Internat besorgten, jedenfalls später erwidert haben: Er würde "solche Saubären sofort herausschmeißen".

Roman Smolorz: Die Regensburger Domspatzen im Nationalsozialismus - Singen zwischen Katholischer Kirche und NS-Staat. Verlag Friedrich Pustet, 216 Seiten, 22 Euro.

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SZ vom 29.09.2017/mkro
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