Es ist ein grauer, windiger Tag am Chiemsee. Die Spaziergänger auf der Seepromenade in Prien haben ihre gefütterten Winterjacken an, im flachen, gerade 4,3 Grad kalten Wasser dümpeln bloß ein paar Blesshühner und Stockenten. Doch hinter den großen Glasscheiben mit Blick Richtung Herrenchiemsee tragen die Menschen Bikinis und Badehosen. Das Wasser dort drinnen im Schwimmerbecken sollte konstant 27 Grad haben, im Erlebnisbecken 30, im Kleinkinderbecken 31 und im Whirlpool 34 Grad. Für sein Außenbecken, in dem aber gerade niemand planscht, verspricht das Erlebnisbad Prienavera 33 Grad. Der Temperaturunterschied zum See ist nicht nur für Badende beträchtlich. Und doch soll das Beckenwasser künftig vom Seewasser aufgeheizt werden. Mit diesen Plänen könnte die Gemeinde Prien am Chiemsee bayernweit zu einem der Vorreiter für die Seethermie werden.
Die Priener sind unter den Ersten, aber nicht die Einzigen im Freistaat, die sich mit dem Thema befassen. An der Großbaustelle für das neue Luxushotel „Seegut“ in Bad Wiessee sind gerade Leitungen bis ans Ufer des Tegernsees gelegt worden; die beiden Rohre direkt in den See hinein sollen im Herbst folgen. Durch eines von ihnen wird das Wasser aus dem See gesaugt werden. Dann soll es über einen Wärmetauscher einen Teil seiner Energie abgeben und um ein paar Zehntelgrad kälter wieder in den See zurückfließen. Für den Tegernsee wie für den Chiemsee als Ökosysteme sollte das kein Problem sein, denn das Wasser der bayerischen Seen wird durch den fortschreitenden Klimawandel ohnehin immer wärmer und wärmer.

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So gesehen sind Seen riesige Energiespeicher. Um sie anzuzapfen, braucht es allerdings Strom. Denn in einer zweiten Stufe stellt eine elektrisch betriebene Wärmepumpe die wirkliche Heiztemperatur her. Im Prienavera in Prien soll diesen Strom eine Photovoltaik-Anlage erzeugen, und zwar übers Jahr gesehen und rein rechnerisch zu 100 Prozent. Aus diesem Strom soll dann ein Vielfaches an Heizenergie entstehen.
Für das Prienavera werde da eine Temperatur von 40 bis 45 Grad benötigt, sagt Priens Bürgermeister Andreas Friedrich. Damit ließe sich dann immerhin das Wasser in den Becken heizen – zumindest wenn es draußen wieder etwas wärmer ist. Im Sommer hat der Chiemsee oft selbst mehr als 20 Grad Wassertemperatur. Bei vier Grad wie manchmal im Winter wird es auch für die Schwimmbecken nicht ganz reichen. Und für die Duschen und die Raumluft wird es weiterhin das bisher mit Gas betriebene Blockheizkraftwerk brauchen.
Trotzdem könnte die Seethermie die Bilanz des Bades erheblich verbessern, das mit Abstand der größte Energiefresser unter den Liegenschaften der Gemeinde ist. 100 Tonnen klimaschädliches CO₂ könnte die Gemeinde so pro Jahr einsparen. Ob und wann sich das alles auch finanziell bezahlt machen wird, ist offen. Das hängt auch davon ab, ob es für das Projekt wirklich diese oder jene Fördermittel vom Bund und von der Europäischen Union geben wird. Selbst rechne die Gemeine noch mit einer Investition von mehr als zwei Millionen Euro, sagt Friedrich. Insgesamt habe man zuletzt schon etwa sieben Millionen Euro ins Prienavera gesteckt.
Von Februar 2023 bis Februar 2024 war das Bad ein Jahr lang geschlossen, Teile der Technik sind in der Zeit erneuert und so vorbereitet worden, dass die Seethermie-Nutzung zumindest mal möglich ist. All das haben sich die Gemeinde und ihr Schwimmbad-Planer Stefan Mersmann aus Essen über Jahre so zurechtgelegt. Natürlich sei das Bad wichtig für den Tourismus am Ort, aber die bloßen Einnahmeausfälle während der Schließung habe die Gemeinde gut verschmerzen können, sagt Friedrich. Denn „ein Schwimmbad ist am günstigsten, wenn es geschlossen ist“. Und auf längere Sicht sollten sich dann auch die installierten Anlagen für die Wärmerückgewinnung aus der Lüftung und aus dem Abwasser lohnen.

Was nun die Zuschüsse und den Antrag bei den Behörden wegen der Seethermie betrifft, zeigt sich Friedrich zuversichtlich. Auch ein Meinungsaustausch in großer Runde mit vielen Behörden, Umweltverbänden und auch den Chiemsee-Fischern sei recht ermutigend verlaufen. Freilich habe es Fragen der Fischer gegeben zur Strömung an den Rohren, zur Wassertrübung und zum Fischlaich, aber gerade das mit der Temperatur hätten auch die Fischer eher positiv aufgenommen. Zum Problem könnten dagegen eingeschleppte Muscheln werden, die sich gerne dort ballen, wo das Wasser strömt, und also die Rohre zusiedeln könnten. Diese Muscheln soll laut Friedrich ein Molch entfernen – in dem Fall kein Tier, sondern eine Art vom Bad aus durchs Rohr geschobene Bürste.
Seethermie-Pläne, die über das Prienavera hinausreichen würden, gibt es in Prien derzeit nicht, und auch die Gemeinde Bad Wiessee am Tegernsee überlässt das Thema vorerst den Bauherren des Hotels Seegut. Die ganze, ohnehin gerade von Baustellen zerfurchte Gemeinde aufzureißen für ein von Seethermie gespeistes Wärmenetz, das war den Wiesseer Räten dann doch zu viel. Doch auch an anderen bayerischen Seen macht man sich Gedanken über die Seethermie. Am Starnberger See loten Tutzing, Berg und Starnberg die Möglichkeiten aus, am Ammersee überlegt Herrsching.
Dass die Seethermie im größeren Stil funktioniert, zeigt sich etwa im schweizerischen Luzern, wo Tausende Haushalte über das Wasser aus dem Vierwaldstättersee beheizt werden sollen und dafür gerade ein Verteilnetz aufgebaut wird. In kleinerem Maßstab ist das Verfahren in der Schweiz längst etabliert. Das Rathaus in Zürich bezieht seine Wärme schon seit mehr als 80 Jahren aus der Limmat.
Denn das Prinzip funktioniert auch mit Flüssen. In Mannheim produziert eine vom Rhein gespeiste Flusswärmepumpe seit Herbst 2023 Wärme für rund 3500 Haushalte. Auch die Rosenheimer Stadtwerke haben an ihrem Heizkraftwerk in den Jahren 2022 und 2023 drei große Wärmepumpen in Betrieb genommen, die das Wasser aus dem örtlichen Mühlbach nutzen und so rund ein Zehntel zur Fernwärmeproduktion in der Stadt beitragen.
Eine Studie, die der Verband der Bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft, die Vereinigung Wasserkraftwerke in Bayern, der Landesverband Bayerischer Wasserkraftwerke und der Verband kommunaler Unternehmen gemeinsam in Auftrag gegeben hatten, kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass ganz grob überschlagen und rein theoretisch der gesamte Wärmebedarf fürs Heizen und fürs warme Wasser in Bayern aus größeren Gewässern gewonnen werden könnte. Allerdings sind diese Gewässer gerade dann besonders warm, wenn wenig Wärme gebraucht wird. Daher schätzt die Studie das Potenzial in der Praxis immerhin noch auf ein knappes Fünftel.