Süddeutsche Zeitung

Chiemgau:Das sind die beiden schönsten Bergsteigerdörfer Bayerns

Sachrang und Schleching im Chiemgau erhalten den begehrten Titel "Bergsteigerdorf". Die beiden Gemeinden sind attraktiv für Besucher, ganz ohne Lifte und Events.

Von Matthias Köpf und Christian Sebald

Alpine Infrastruktur hätten sie schon auch, und weil es kaum anders zu gehen scheint, sogar mit einem Superlativ: Der längste Doppelsessellift Deutschlands ziehe sich also von Ettenhausen zum Wuhrsteinhaus hinauf. Der Lift ist seit ein paar Jahren nicht mehr in Betrieb, aber vielleicht nächsten Sommer wieder. Übertrumpfen wird ihn bis dahin sowieso keiner, denn Zweiersessellifte baut längst niemand mehr. Sechser oder Achter sollten es schon sein.

Aber nicht hier in Schleching, kurz vor der österreichischen Grenze hinten im Tal der Tiroler Ache. Hier soll es besser bleiben, wie es ist. Dass sie es also gut sein lassen können und sollen, hat ihnen der Alpenverein am Freitag bestätigt: Mit einer Auszeichnung als Bergsteigerdorf, zusammen mit Sachrang drüben im Priental als zweites und drittes in Bayern.

So ein Bergsteigerdorf sollte im Gemeindegebiet eine Höhendifferenz von mindestens 1000 Metern vorweisen können, lautet eine der vielen Bedingungen. Doch schon wer von der Wallfahrtskirche hinunterschaut, die am gut 800 Meter hohen Streichen steht, sieht in Schleching keine der Bausünden, wie sie anderswo oft die Täler prägen. Drunten ist nur ein einziger Kran am Werk.

Das prägnanteste Gebäude bleibt die Kirche St. Remigius, und nicht einmal die scheint überdimensioniert für den 550-Einwohner-Ort. Auch der Gasthof zur Post hält sich zurück, obwohl er mit 27 Doppelzimmern der größte Gastgeber im Ort ist und ganze Busse unterbringt. Aber die meisten Gäste kommen als Paare oder Familien und bleiben gerne etwas länger in den Pensionen, Ferienwohnungen oder auf einem der Bauernhöfe. 15 000 Gäste waren es zuletzt im Jahr, bei 85 000 Übernachtungen.

Womöglich hätten es viel mehr werden können, wenn sie in den Siebzigern mit den Sachrangern die Skischaukel über den Geigelstein gebaut hätten, ihren gemeinsamen Hausberg. Deutsche Meisterschaften haben sie 1969 ausgerichtet in Schleching. Remigius Bauer war Vorläufer beim Riesentorlauf.

Aber das mit dem Skizirkus würde heutzutage doch nichts mehr. "Winter ist bei uns lang vorbei", sagt Bauer, den sie hier den "Schustermuck" nennen - wie seinen Vater, dessen Eltern erst nach seiner Geburt geheiratet hatten, weshalb der Pfarrer den Taufnamen ausgesucht und den Kirchenpatron genommen hat.

Der dritte Schustermuck ist 38 und betreibt heute das Sportgeschäft, das aus der Schusterwerkstatt des Ururgroßvaters geworden ist. Er hat sich besonders dafür eingesetzt, dass Schleching sich als Bergsteigerdorf bewirbt.

Die 1000 Meter haben sie mit dem Geigelstein, dem Breitenstein und der Kampenwand gleich dreimal, ihr Brauchtum pflegen sie sowieso, und was den naturnahen Tourismus und das regionale Wirtschaften betrifft, dürfen sie sich mit ihrem "Ökomodell Achental" seit den 1990er-Jahren als Pioniere ansehen. "Das Konzept der Bergsteigerdörfer ist wie maßgeschneidert für uns", sagte Bürgermeister Josef Loferer beim Festakt am Freitag.

Erfinder der Bergsteigerdörfer ist Peter Haßlacher. Der heutige Chef der Alpenschutzkommission Cipra in Österreich leitete bis 2008 die Naturschutzabteilung des österreichischen Alpenvereins. "In den Neunzigerjahren waren wir immer mit dem Vorwurf konfrontiert, dass wir den vielen Gebirgsdörfern bei uns keine wirtschaftliche Entwicklung gönnen", sagt Haßlacher. "Der Grund war, dass wir uns für den Schutz unserer Bergwelt vor immer neuen Seilbahnen und Skigebieten, Wasserkraftwerken und anderen Großprojekten eingesetzt haben."

Irgendwann sei man darauf gekommen, dass man den Bergdörfern Alternativen anbieten müsse. Das war die Geburtsstunde der Bergsteigerdörfer. Haßlachers Idee: Kleine Alpendörfer sollen Angebote für natur- und umweltbewusste Gäste entwickeln, für Genusswanderer wie für ambitionierte Alpinisten. Sie sollen sich aktiv für den Naturschutz einsetzen, ihre Authentizität bewahren, die Almwirtschaft erhalten, alternative Verkehrskonzepte entwickeln und anderes mehr.

Im Gegenzug zeichnet sie der Alpenverein aus "mit einem exklusiven Gütesiegel, dank dem sich alle Bergbegeisterten darauf verlassen können, dass es sich bei dem jeweiligen Dorf um einen ganz besonderen Ort in den Alpen handelt", wie Haßlacher sagt. In Österreich gibt es inzwischen 20 Bergsteigerdörfer. 2015 kürte der DAV Ramsau bei Berchtesgaden zum ersten in Bayern.

Wer wissen will, was Bergsteigerdörfer besonders macht, braucht von Schleching nur nach Tirol zu fahren. Dort gibt der Wilde Kaiser zwar die zackigere Kulisse ab, doch darunter tobt zwischen Bettenburgen und anderen wild über die Landschaft gewürfelten Bausünden auch im Sommer der alpine Massentourismus. Drüben in Sachrang wird es wieder ruhig, der Ort ist kleiner als Schleching und wirkt noch ursprünglicher. All die Infrastruktur, die ein Bergsteigerdorf eben auch braucht, gibt es eher in Aschau, zu dem Sachrang seit 1978 gehört.

Doch die Sachranger haben etwas, das Schleching fehlt, nämlich eine Alpenvereinshütte. Außerdem sei man schon eher auf die Idee gekommen, sich zu bewerben, sagt Sebastian Pertl. Er ist Biobauer und hat droben am Geigelstein eine Alm. Früher habe ihm die nichts bedeutet, sagt der 48-Jährige. Da sei er lieber mit den Kameraden an der Bergwachthütte gesessen, und eine Skischaukel wäre ihnen damals schon recht gewesen.

Dass aus der nichts geworden ist, führen sie rund um den Geigelstein weniger auf die Bürgerinitiative zurück, die vor allem von Auswärtigen getragen wurde. Eher habe man selber gezweifelt, ob man das viele Geld dafür hat und es je wieder hereinholen wird. Dass der Geigelstein seit 1990 unter Naturschutz steht, ist aber vor allem dieser Initiative zu verdanken.

Seit Pertl 1995 den Hof mit der Alm übernahm, ist er froh um das Schutzgebiet. Er hat die Bergsteigerdorf-Idee von Sachrang aus vorangetrieben. Mit den Schlechingern gemeinsame Sache zu machen, könnte ihm im Blut liegen, seine Eltern haben am Geigelstein zusammengefunden: Die Mutter stammte von der Schlechinger Seite, der Vater musste von Sachrang her als Almbub hinauf.

Zwischen den Bergsteigerdörfern hin und her zu kommen ist bis heute nicht einfach, eine Überschreitung des Geigelsteins ist mit logistischen Problemen verbunden. Als erstes gemeinsames Projekt soll es daher einen Ringbus um den Gebirgsstock geben.

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SZ vom 22.07.2017/mkro
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