Bundestagswahl:Nichtwähler: "Für unsere Gegend interessiert sich überhaupt keiner"

Wahlplakat im Bayerischen Wald

Das vom August-Unwetter malträtierte CSU-Plakat scheint den Traktorfahrer nicht zu interessieren: eine Landstraße im niederbayerischen Aicha vorm Wald.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Die Niederbayern gehen noch seltener zur Wahl als andere. Dabei ist die Arbeitslosigkeit niedrig und die Stadt-Land-Theorie wird hier auf den Kopf gestellt.

Von Andreas Glas

Die Kapelle spielt "Es ist so schön, ein Musikant zu sein", aber es fällt schwer, das zu glauben. Keiner schunkelt, keiner tanzt, keiner singt mit. Die wenigen Leute, die da sind, haben sich ins Bierzelt gegenüber der Bühne verkrochen. Es ist Sonntag, 14 Uhr, CSU-Bürgerfest auf dem Marktplatz in Hengersberg. Eine CSU-Hochburg, wie man so sagt, fast 60 Prozent holte der christsoziale Kandidat hier bei der Bundestagswahl 2013. Und jetzt: fast nix los am Marktplatz.

Manchmal sind die Dinge leicht zu erklären, an diesem Sonntag reicht ein Blick in den Himmel. Das Wetter ist mies, da zieht in Niederbayern nicht mal die CSU. Selbst Thomas Erndl, 43, hat sich ins Café am Marktplatz verkrochen. Er trägt Trachtenjanker und Seitenscheitel, ist CSU-Direktkandidat hier im Wahlkreis 227, der hauptsächlich aus den Landkreisen Deggendorf und Freyung-Grafenau besteht. Ihn treibt ein Phänomen um, das nicht so leicht zu erklären ist, ein Mysterium: die Wahlbeteiligung in Niederbayern.

"Ich bin nach wie vor am Rätseln", sagt Erndl über diese Zahl: 64,4 Prozent. So wenige Niederbayern haben bei der Bundestagswahl 2013 ihre Kreuze gemacht, fast sechs Prozentpunkte weniger als in ganz Bayern (70,2). Unter den wahlfaulen Niederbayern waren diejenigen im Wahlkreis 227 die faulsten, hier lag die Beteiligung bei mageren 60,6 Prozent - fast zehn Prozentpunkte weniger als der Bayern-Schnitt. Das ist kein Graben mehr, das ist eine Schlucht.

"Ein interessantes Phänomen", sagt der Passauer Politikwissenschaftler Michael Weigl. Ob Bundestags-, Landtags- oder Europawahl - die Wahlbeteiligung ist in Niederbayern stets geringer als im übrigen Freistaat. "Aber eine wirkliche Erklärung kann keiner geben", sagt Weigl. Hm. Vielleicht kann Maximilian Seefelder das Mysterium erklären. Er ist Bezirksheimatpfleger, er kennt die Niederbayern. Hat es mit der Kultur zu tun, mit der Mentalität? "An dieser Form von 'Spekuliererei' beteiligt sich die Heimatpflege, die auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, generell nicht", teilt Seefelder mit.

Was also tun? Wenn die Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, hilft bekanntlich nur die Philosophie weiter. Man lässt Hengersberg hinter sich, nimmt die B 533 in Richtung Nordosten, biegt in Grafenau ab und fährt ins hinterste Eck Niederbayerns. Eine Autostunde, dann ist man angekommen im Gasthaus Gibis in Annathal. Es wird ja fast nirgends so rege philosophiert wie am Stammtisch. Hier könnte die Erklärung für das Mysterium zu finden sein.

Das Stüberl im Gasthaus Gibis ist ein Raum aus hellem Holz, an den Kleiderhaken hängen Filzhüte. Am Stammtisch sitzen acht Männer hinter acht Biergläsern. Wer mal als Fremder ein Wirtshausstüberl im Bayerischen Wald betreten hat, der weiß, wie es klingt, wenn der Geräuschpegel binnen einer Millisekunde auf null sackt. Wer keine Scheu hat, der weiß aber auch, wie schnell sich die Menschen hier plötzlich doch öffnen. Am Stammtisch ist die Politik ein guter Dosenöffner. Man braucht den Öffner nur anzusetzen, schon quillt es aus den Leuten heraus. Also, warum ist die Wahlbeteiligung hier so niedrig? "Weil keiner der Politik mehr traut", sagt Hermann Gutsmidl, 66.

Hm. Der Satz könnte an jedem Stammtisch der Republik fallen. Überall sinkt das Vertrauen in die Politik, überall die Wahlbeteiligung. Nächster Versuch, jetzt Günther Ilg, 71: "Vielleicht liegt es an der Überalterung bei uns in der Ecke. Jemand, der über 75 ist, der sagt: Was geht mich eine Wahl noch groß an?" Klingt fatalistisch, aber plausibel. Doch die These läuft ins Leere. In Oberfranken, wo die Bayern mit 45,2 Jahren im Schnitt am ältesten sind, lag die Beteiligung an der Bundestagswahl zuletzt bei fast 70 Prozent - viel höher als in Niederbayern, wo der Altersschnitt bei 43,8 Jahren liegt. Das Gegenteil ist also der Fall: Je älter ein Mensch, desto eher geht er wählen. Das bestätigen alle Statistiken.

Kurzer Check am Stammtisch: Wer hat vor, am 24. September wählen zu gehen? Fünf Männer heben die Hand, zwei wissen es noch nicht, einer will daheim bleiben. Fünf von acht, 62,5 Prozent, ziemlich repräsentativ für dieses Eck in Niederbayern. Ein Eck, wo in den Achtzigern im Winter fast jeder Zweite ohne Job war. Heute ist die Arbeitslosigkeit geringer als im übrigen Freistaat. Im Kreis Freyung-Grafenau liegt die Quote bei 2,5 Prozent, in ganz Niederbayern bei 2,9 Prozent. Diese Zahlen machen es noch kniffliger, die Wahlfaulheit hier zu erklären. Denn eigentlich ist es so: Je mehr Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, desto geringer die Wahlbeteiligung. In Niederbayern scheint es andersrum zu sein. Was ist hier nur los?

Je ländlicher eine Gegend ist, desto mehr Leute gehen in die Wahllokale

Na ja, sagt Günther Ilg, die Arbeitsplätze gebe es vor allem in den Städten, nicht im Bayerischen Wald. "Bei uns is' nix, bei uns pendeln alle", nach Passau, nach Landshut, nach Dingolfing ins BMW-Werk. Im Wald sind die Strukturen anders, da hat Ilg schon recht. Klar, auch hier gibt es Industrie und Jobs - nur eben deutlich weniger als in den niederbayerischen Städten. Und trotzdem: Die Stadt-Land-Theorie taugt nicht als Erklärung für eine niedrige Wahlbeteiligung. Die Statistik zeigt: Je ländlicher eine Gegend ist, desto mehr Leute gehen in die Wahllokale.

Es ist zum Verzweifeln: In Niederbayern stehen alle Statistiken auf dem Kopf. Man ist nach Annathal gekommen, um Antworten zu finden - stattdessen tauchen neue Fragezeichen auf. Bis sich Walter Eder, 60, in die Stammtischdebatte einmischt. Die Betriebe, die es im Bayerwald noch gebe, "da arbeiten sieben Leute, das interessiert den Staat nicht. Für unsere Gegend interessiert sich überhaupt keiner". Vielleicht hat es also damit zu tun: mit dem Gefühl, abgehängt zu sein von den strukturstarken Metropolen, von diesem Superbayern, über das alle reden. Mit dem Gefühl, nicht beachtet zu werden von Politikern, die lieber dorthin schauen, wo die großen Unternehmen sitzen. Vielleicht sollte man die Antworten also nicht in den Zahlen suchen, sondern in der Seele dieses Landstrichs - und damit in seiner Geschichte.

Nächste Station der Spurensuche: Krailling bei München. Hier lebt Historiker Zdenek Zofka, der sich seit Jahrzehnten mit dem Wahlverhalten der Bayern befasst. Er zeigt eine Landkarte, die ein Erklärungsansatz sein könnte für das niederbayerische Mysterium. Die Karte stammt aus Zeiten der Weimarer Republik, aus dem Jahr 1924. In der Karte sind die Gegenden rot markiert, in denen die Zahl der Nichtwähler überdurchschnittlich hoch war. Und tatsächlich: Niederbayern ist komplett rot eingefärbt, nur die Regionen um Landshut, Straubing und Dingolfing sind orangefarben. Der Rest Bayerns ist fast überall gelb, grün, blau gefleckt, hatte schon damals eine höhere Wahlbeteiligung.

Das "Tal der Wahlverweigerer" nennt Historiker Zofka die knallrote Zone in den heutigen Landkreisen Regen, Passau, Deggendorf und Freyung-Grafenau. Schon damals habe Niederbayern die Wahlbeteiligungsquote in Bayern gedrückt. Die Frage ist halt: Warum? "Sie hatten das Gefühl, von der Politik nicht berücksichtigt zu werden. Das ist für mich die plausibelste Erklärung", sagt Zofka. Da kommt einem in den Sinn, was Stammtischler Walter Eder gesagt hat: "Für unsere Gegend interessiert sich überhaupt keiner." Das Gefühl, nicht berücksichtigt zu werden, scheint bei manchen bis heute überlebt zu haben.

Der Mainzer Wahlforscher Jürgen Falter sagt, dass dieses Gefühl bis in die Kaiserzeit zurückreiche. Damals war Niederbayern ein Bauernland. Die reichen Landwirte im Westen standen vor allem einer Partei nahe: dem Bayerischen Bauernbund. Die Waldler dagegen haben sich nie mit dem Bund identifiziert. Weil im östlichen Niederbayern "aufgrund des herrschenden Mehrheitswahlsystems andere Parteien als die Zentrumspartei nicht den Hauch einer Chance hatten, ihren Kandidaten durchzubringen", sagt Falter, könnte sich damals dieses Ohnmachtsgefühl etabliert haben, die Wahl sowieso nicht beeinflussen zu können.

Die Folge: Die Leute gingen gar nicht erst wählen, "weil die Mühe vergebens gewesen wäre. Da wäre auch ein Besenstiel gewählt worden, Hauptsache, er wäre schwarz angestrichen gewesen", sagt Falter. Passt irgendwie ins Bild: Auch heute ist es ja so, dass in Niederbayern am Ende immer die Schwarzen gewinnen. Bei der Bundestagswahl 2013 bekam die CSU hier fast 56 Prozent der Stimmen - mehr als überall sonst in Bayern.

In einigen Regionen habe der gesellschaftliche Wandel das traditionelle Wahlverhalten zerstört, sagt Zdenek Zofka. Manchmal aber "nehmen Traditionen nur eine neue Gestalt an, leben in einer anderen Form weiter. Die Geschichte hat einen langen Atem". In Niederbayern, so scheint es, ist der Atem besonders lang.

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