Süddeutsche Zeitung

Bürgerentscheid in Niederbayern:Der Turm von Deggendorf

36 Meter oder nur 22 Meter: Die Frage, wie hoch ein sehr niedriges Hochhaus werden darf, hat die Stadt Deggendorf in den Ausnahmezustand versetzt. An diesem Sonntag entscheiden die Bürger. Eine Provinzposse? Nein, eine typisch deutsche Geschichte.

Von Gerhard Matzig

Stimmt das - "Haben Sie dieses Café gekauft und die Leute gefeuert, nur weil Sie hier mal schlecht behandelt wurden? Und für das Hochhaus, das Sie jetzt in Deggendorf bauen wollen, ist ein Hubschrauberlandeplatz vorgesehen?"

Hm. Günther Karl wird beide Fragen, die fast zum sofortigen Ende des Interviews führen, beantworten. Aber nicht gleich.

Die Grand-Canyon-Furchen im Gesicht des 69-Jährigen werden erst mal noch etwas canyonhafter. Seine Augen verengen sich. Schießscharten, denkt man. Darunter aber befindet sich ein Mund, der sich langsam dazu entschließt, ein lächelnder Mund sein zu wollen. Das Café in der Lateinschulgasse 15 in Deggendorf heißt "Vis a Vis" und gehört, wie vieles andere in der Stadt, Karl. Am Sonntag wird in Deggendorf per Bürgerentscheid ein Streit um die Zukunft der Stadt entschieden. Dieser Streit wirkt wie eine irre Provinzposse. Doch das stimmt nicht. In vielen kleinen wie großen Gemeinden gibt es derzeit überall im Land ganz ähnliche Debatten. Deggendorf ist überall.

Er ist schwer zu verstehen, noch schwerer zu durchschauen. So will er das.

Karl wird mal als Finanzhai, mal als Baulöwe beschrieben, mal als Heuschrecke, mal als Wohltäter. Er selbst sieht sich als Macher, der nicht gern redet. Vor sich hat er ein stilles Wasser. Sein Nuschel-Niederbayerisch hört sich an wie Knödel, die aus dem Mund fallen. Karl ist schwer zu verstehen und noch schwerer zu durchschauen. Genau so will er das auch.

Angefangen hat er als Baggerfahrer in Innernzell, einem, mit Respekt, denn so etwas kann auch sehr schön sein, Kaff. Eine halbe Stunde von Deggendorf entfernt. Heute - was für ein Lebenswerk - bereist Karl sein Imperium, die Karl-Firmengruppe, mit dem Hubschrauber oder mit Hilfe eines Chauffeurs. Der wartet an diesem Märztag, es ist der erste richtig warme Tag in Deggendorf, vor dem Café. Die dunkle Limousine hat das Kennzeichen M-VV-5055. Es könnte aber auch ein "B" oder ein "HH" oder sonstwas sein. Zu Karls deutschlandweitem Reich gehören Müllverbrennungsanlagen, Textilfabriken, Wasserkraftwerke, die Trabrennbahn in München-Daglfing, Immobilien. Und: zigtausend Quadratmeter in Deggendorf.

Obendrein gehört ihm auch ein Patent zur Sicherung des Schiefen Turms in Pisa. Günther Karl ist ein interessanter Mann, den man sich, das ist so niederbayerisch wie es auch hochamerikanisch ist, als hemdsärmeligen Selfmademan vorstellen kann. Volksschule. Bagger. Multimillionär. An diesem Tag trägt er feines Tuch, dazu ein rosa Hemd mit weißem Kragen. Auch in einem Wallstreetfilm kann man sich Karl gut vorstellen. Aber vor allem ist er entwachsen den kargen Böden einer harten Wald-Natur. Die ist vieles. Nur nicht lieblich. Karl ist das auch nicht. Er ist ein Geschäftsmann mit Instinkt, der nur das sein will, was er ist. Sein Café aber will lieber eine Lounge sein. "Hugo's" sind im Angebot. Die Ambition ist wie mit Händen zu greifen.

Nicht weit von hier entfernt, zwischen Donau und Stadtzentrum, könnte schon bald das neue Hauptquartier des Karlschen Firmenimperiums entstehen, ein nicht minder ambitioniertes "Hochhaus", bis zu zehn Geschosse oder 36 Meter hoch. Über dieses Projekt haben sich die Deggendorfer so heftig zerstrittenen wie über nichts anderes in den letzten Jahrhunderten der eindrucksvollen Stadtchronik. Ob der "Karl-Tower" aber gebaut wird oder nicht: Darüber muss am Sonntag ein Bürgerentscheid beziehungsweise ein Ratsbegehren befinden. Die Stadt ist seit Monaten im Ausnahmezustand.

Dass an der Stadthalle gerade das Equipment für das Konzert von Die Amigos angekarrt wird und dass sogar Hansi Hinterseer kommt (im Juli): ein schwacher Trost. Denn derzeit beherrscht die Disharmonie die 32 000-Einwohner-Stadt. Die Differenz, um die es geht: 14 Meter. Drei VW-Sharan-Vans hintereinander sind länger.

Das Ratsbegehren will ein "Ja" der Bürger "zur Entwicklung im Hochschulviertel" (am fraglichen Standort hat sich vor Jahren eine Technische Hochschule angesiedelt), weil das "Ja" zum 36 Meter hohen Haus auch ein "Ja" zu "Arbeitsplätzen, Werft und Hochschule" sei. Das ist so diffus wie suggestiv. Was genau hat das Hochhaus mit der ebenfalls nahe gelegenen Werft zu tun - außer dass deren Hallen ebenfalls 30 Meter hoch aufragen?

Bedeuten 22 Meter Höhe 14 Meter weniger Zukunft?

Und der Bürgerentscheid will "kein Hochhaus", sondern fordert die Begrenzung "auf eine Wandhöhe von 22 Meter" - weil sonst die Stadtsilhouette und mit ihr das "kulturelle Gedächtnis" der Stadt ruiniert werde. Das ist kein bisschen weniger unscharf und suggestiv. Unsinnig ist, streng genommen, beides. Beides kann man dennoch sehr gut auch außerhalb der Stadt verstehen. Gute, bedenkenswerte Argumente gibt es auf beiden Seiten - und jeweils seriöse Fürsprecher, denen man das Engagement nicht absprechen will. Posse hin, Posse her.

Da ist etwa der Oberbürgermeister Christian Moser (CSU), Jahrgang 1977. Ein junger, smarter Typ, der in seinen Plädoyers für des Investors Hochhauspläne die Begriffe "Zukunft", "Optimismus", "Arbeitsplätze" und sogar "Visionen" bemüht. Wer würde das nicht wollen. Aber sind dafür jetzt exakt 36 Meter nötig? Und mit 22 Metern erhielte man dann 14 Meter weniger Zukunft? Moser sieht, mit Blick auf Karl, vor allem "eine Neiddebatte - typisch deutsch".

Und da ist, ebenfalls auf der Seite der Befürworter, der Architekt, Markus Kress. Der Absolvent der TU in München leitet das größte Architekturbüro in Deggendorf: Kress Architekten. Er, der schon oft für Karl tätig war, ist der eigentliche Ideengeber für das Projekt. Er glaubt, und das ist gut nachvollziehbar, dass das Areal am Rande der Stadt, bislang eine öde, suburbane Brache, aufgewertet werden müsse. Mit Hilfe einer signifikanten, stadträumlichen Dominante: mit einem zehn- und neungeschossigen Haus, das aus zwei Scheiben bestehen würde. Das wäre ein Tor zur Stadt und eine Initialzündung für die weitere Entwicklung der Umgebung.

Im Rathaus, wo es ein großes Stadtmodell gibt, präsentiert er seine Architekturvorstellung. Man kann das Plexiglas-Modell stückweise demontieren - und der Reporter denkt: 28 oder 30 Meter passen auch gut zur Stadt. Warum müssen es 36 sein? Kress ist da angenehm undogmatisch - und erklärt das Dilemma so: "Ein Kompromiss ist durch Ratsbegehren, also 36 Meter, versus Bürgerentscheid, also maximal 22 Meter, kaum möglich."

Ist die gute Stadt nicht immer ein guter Kompromiss? Bürgerentscheide führen zu mehr Demokratie, auch abseits von Deggendorf; führen sie aber auch zu besseren Kompromissen?

Übrigens gibt es auch noch den EINEN: Johannes Grabmeier. Für viele ist er der Retter der Stadtsilhouette, für andere der Killer der Arbeitsplätze. Er ist wohl weder das eine noch das andere, ganz sicher aber Professor an der Hochschule und Kandidat der Freien Wähler. Im Stadtrat hatte er seine Stimme gegen das Vorhaben erhoben.

Den Initiatoren geht es um Transparenz und Diskurs - ist das so falsch?

37 waren dafür. Seiner Initiative ist der Bürgerentscheid zu verdanken. Grabmeier, der hoch über Deggendorf wohnt, wenn auch ohne Blick auf ein zu erhoffendes oder zu befürchtendes Hochhaus, ist eloquent. Ohne wutbürgerliche Tiraden scheint es ihm um die Wahrung des Stadtbildes zu gehen, und darum, dass mit "Hochhäusern als Fortschrittsvorstellungen von einst" keine Zukunft zu gewinnen sei. Vor allem aber geht es ihm um Transparenz, demokratische Teilhabe und gesellschaftlichen Diskurs. Und auch damit liegt er ja nicht falsch.

Auch insofern: Die Provinzposse ist gar keine. Auch anderswo, Stuttgart 21 lässt grüßen, befinden sich Gemeinden im Clinch über Bauvorhaben. Mal geht es um höhere Häuser, mal um tiefere Tunnel, mal um Umgehungsstraßen oder die Verlegung von Buswartehäuschen. Oft muss der Bürgerentscheid her. Immer sind die gleichen Feindbilder zugegen: allmächtige Investoren, Korrupte Politiker, verantwortungslose Architekten, Querulanten und Fortschrittsverweigerer.

In Wahrheit wünschen sich alle Städte doch nur, den Balanceakt zwischen gestern, heute und morgen zu meistern. Und nun? Günther Karl erzählt dann noch, nein, er habe das Café nicht gekauft, weil man ihn schlecht behandelt hätte. Sondern? "Weil mich die laute Musik gestört hat." - "Die ist aber doch jetzt auch wieder ganz schön laut?" - "Da sehen Sie mal, dass man manche Dinge nicht für alles Geld der Welt kaufen kann." Er lacht. Auch über die Idee vom Hubschrauberlandeplatz: "so ein Blödsinn."

In Deggendorf geht es nun um 22 Meter oder 36 Meter. Das ist schade. Es könnte auch um stadträumliche und architektonische Qualität gehen. Aber dann würde die Diskussion erst beginnen - und nicht schon enden am Sonntag.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2401509
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.03.2015/angu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.