Süddeutsche Zeitung

Brauchtum und Geschichte:Wie eine Trinkwette Rothenburg ob der Tauber gerettet haben soll

Die Stadt sollte im Dreißigjährigen Krieg zerstört werden - doch dann konnte der Altbürgermeister ausreichend fränkischen Wein trinken. Ob die Legende so stimmt?

Von Vinzent-Vitus Leitgeb

Der schnellste Weg vom Bahnhof in die Rothenburger Altstadt führt durch ein Tor aus dem Jahr 1615. Entgegen kommt einem die neueste Technik: Eine japanische Touristin filmt mit einer GoPro, einer kleinen Kamera, wie sie die Stadt verlässt. Pinker Rollkoffer hinter sich, Reisebus vor sich. In den Gassen zum Rathaus werden es immer mehr Besucher. Und das zu einer Zeit, in der die Stadt verhältnismäßig leer ist. Der Weihnachtsmarkt ist noch nicht fertig aufgebaut. Aber Rothenburg ist eine Touristenstadt. Auf den Fremdenverkehr zu setzen statt auf Industrie, war eine Entscheidung nach dem Zweiten Weltkrieg, die malerische Kulisse legt es nahe. Doch die Wurzeln für den Besucherandrang liegen womöglich noch tiefer, im Jahr 1881. Sie führen zu einem gewieften Glaser, der eine Legende aus dem Dreißigjährigen Krieg gut vermarktet hat.

Die Legende geht so: Der kaiserliche Heerführer Tilly stand 1631 schon seit zwei Tagen mit 60 000 Mann vor der Stadt. Rothenburg war protestantisch, Tilly kämpfte für den katholischen Bund. Als am 30. Oktober das Pulverlager in einem der Türme der Stadtmauer explodierte, brach die Befestigung der Stadt. Tilly ließ Rothenburg stürmen. Er verurteilte alle Stadträte und den Bürgermeister zum Tod. Doch plötzlich - als er einen Willkommenstrunk gereicht bekam - hielt er ein und änderte seine Meinung. Tilly bot den Rothenburgern überraschend eine Wette um ihr Leben an. Sie sollten darum trinken. Jede Menge fränkischen Wein.

Dreieinviertel Liter sollen in dem Humpen gewesen sein, der Rothenburg schließlich vor schlimmeren Übeln bewahrt hat. Alle Stadträte durften leben, die Stadt wurde weitgehend verschont. Alles, weil der Altbürgermeister Georg Nusch den ganzen Humpen in einem Zug austrinken konnte. Ein Meistertrunk. Dabei ist immer noch nicht nachgewiesen, ob der denn wirklich stattgefunden hat oder nicht.

In den Wirren des Krieges seien viele Geschichten entstanden, die schwer zu überprüfen sind, sagt Matthias Korwitz. Er könne sich aber nur schwer vorstellen, dass jemand so viel Wein in einem Zug getrunken hat. Der 46-Jährige schlüpft seit 2010 jedes Jahr acht Mal in die Rolle des legendären Meistertrinkers Nusch. Dann nämlich, wenn die Legende zu Pfingsten oder bei den Reichsstadttagen im Herbst als Theaterstück aufgeführt wird.

Korwitz trägt dann einen schweren, schwarzen Mantel und eine große Halskrause. Wenn Tilly die Bühne betritt und seine Wette vorschlägt, greift er kurzerhand zu dem Humpen, auf dem die damaligen Kurfürsten und der Kaiser abgebildet sind. Er setzt an und trinkt. "Es sieht natürlich nach sehr viel Flüssigkeit aus, ist aber nur ein halber Liter", sagt Korwitz. "Der Humpen hat eine doppelte Wand." Normalerweise sei Apfelsaft drin. Nur einmal habe er Wein eingefüllt. Ein Fehler nach zwei Stunden Arbeit auf der Bühne.

Inzwischen kommen an gut besuchten Pfingsttagen bis zu 25 000 Menschen nach Rothenburg. Neben der Theateraufführung gibt es historische Umzüge und Feldlager, die einen Einblick in den Dreißigjährigen Krieg geben. Die Veranstaltung zählt seit 2016 zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. Und wie sich herausstellt, wurde sie genau zu diesem Zweck 1881 gegründet: Um Rothenburg wieder zu beleben.

Das erzählt Arnold Peterson bei einer Führung durch die Stadt. Zwölf Jahre lang war er stellvertretender Vorsitzender des Meistertrunk-Festvereins. Mehr als 30 Jahre hat er selbst mitgespielt. "Rothenburg war nach dem Krieg total am Boden und erholte sich nicht", sagt Petersen. 1803 habe die Stadt ihren Status als freie Reichsstadt verloren und damit ihre politische Unabhängigkeit sowie einen großen Teil ihrer Ländereien. Petersen führt über eine schmale Wendeltreppe in den ersten Stock des Rathauses. Eine Türe weiter ist der Kaisersaal, in dem Tilly möglicherweise saß, in dem aber in jedem Fall das Festspiel regelmäßig stattfindet.

An der Wand davor hängt ein Porträt des Glasers Adam Hörber. "1875 hatte er die Idee, wenigstens aus der Geschichte der Stadt zu profitieren." Hörber schrieb ein Bühnenstück über den Meistertrunk. 1881 wurde es uraufgeführt. Direkt reisten viele neugierige Menschen nach Rothenburg. Jahr für Jahr nahmen die Besucherzahlen zu. Immer mehr Menschen engagierten sich im zugehörigen Verein, der heute etwa 900 Mitglieder hat. 100 mehr wirken jährlich am Festspiel mit.

Doch hat der Trunk auch historisch wirklich stattgefunden? Das könne niemand wissen, sagt Petersen. Er finde aber nicht so wichtig, ob tatsächlich so viel Wein getrunken wurde oder nicht. Mehr ärgere ihn, dass oft angezweifelt wird, dass Tilly selbst jemals in Rothenburg war. Denn genau das hat Peterson selbst erforscht. Er holt einen vollgefüllten, schwarzen Ordner hervor. "Tilly in Rothenburg/T." steht am Rücken. Drinnen sind Kopien von historischen Dokumenten und Bildern sowie Korrespondenzen mit Historikern.

Mit einem weiteren Vorstand des Vereins hatte Petersens im Jahr 2000 zuerst in Brüssel recherchiert. Denn Tilly war Belgier. Und tatsächlich fanden sich in den Archiven Schilderungen der Belagerung von Rothenburg. Doch der Name Tilly selbst fiel nicht. Das Urteil eines Historikers: ein guter Hinweis, aber kein Beweis. Petersen und sein Kollege machten sich also auf den Weg nach Wien. Weil Tilly unter dem Habsburger Kaiser gedient hatte, hofften sie in Österreich auf neue Spuren. Wieder fanden sie Schilderungen, es fiel sogar der Name Tilly. Doch es reichte nicht aus.

Erst ein Professor aus München konnte helfen. Petersen ließ ihn einen Studenten beauftragen, dem er 700 Mark zahlte. Lange hörte er nichts mehr, bis plötzlich ein Anruf kam. Stolz zeigt Petersen heute die Kopie des Briefs, direkt von Tilly an Kurfürst Maximilian I. von Bayern. "Alles, was wir wollten", sagt er. Der Brief erwähnt die strategisch wichtige Lage Rothenburgs. Nur deshalb sei Tilly mit der vollen Streitkraft gegen die Stadt gezogen, steht da.

"Der Meistertrunk bleibt damit trotzdem eine Legende, ein schönes Schauspiel", sagt Petersen. Doch viele Indizien machen den historischen Rahmen plausibel. Petersen führt entlang der Stadtmauer zum Pulverturm, der 1631 wohl explodierte. Vorbei am Rathaus und schließlich in das Gewölbe unter dem Kaisersaal. Petersens Verein betreibt hier ein Museum. Er biegt nach links ab, duckt sich durch eine kleine Tür. "Das ist er."

Auf einer schmalen Holzsäule steht ein gläserner Humpen, mit dem Kaiser und den sieben Kurfürsten darauf. Jede Stadt habe so einen gehabt für den Besuch hoher Gäste, sagt Petersen. Wenn Tilly jemals in Rothenburg einen Humpen mit dreieinviertel Litern Wein in der Hand gehabt haben sollte, dann wohl diesen. Heute ist er mehr grau als durchsichtig. Die Linien, an denen er geklebt wurde durchziehen die Oberfläche wie feine Spinnennetze. Natürlich ist er das Vorbild für den Humpen von Matthias Korwitz auf der Bühne. Natürlich hat das Original aber keinen doppelten Boden.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2017/axi
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