Süddeutsche Zeitung

Brauchtum:Kulturtransfer mit dem Bollerwagen

Boßeln nennt sich ein Freizeitvergnügen, bei dem weniger der Sport als die Geselligkeit im Vordergrund steht. Ursprünglich aus Norddeutschland stammend, verbreitet es sich langsam auch in Bayern.

Von Sabine Dobel /dpa, Kirchseeon

Norddeutsche in Bayern - längst keine Ausnahme, aber mancherorts noch immer mit leichtem Argwohn beäugt. Zugezogene sollten gewisse Vorsicht walten lassen, wenn sie sich allzu gemein machen mit bayerischem Brauchtum wie Schuhplatteln und Lederhose. Zugleich aber hat klammheimlich norddeutsches Brauchtum Einzug gehalten in oberbayerische Gefilde: Man geht boßeln.

Auch wenn das vor allem in der Online-Version teils mit ss - also Bosseln - geschrieben wird: Es hat nichts zu tun mit einem Vorgesetzten, es ist auch keine andere Form für das bairische Wort "busseln". Es handelt sich vielmehr um eine Freizeitaktivität irgendwo zwischen Kegeln, Kugelstoßen und Golfen. Es wird auf Waldwegen gespielt; Brotzeit und - gerne alkoholhaltige - Getränkereserven werden auf einem Bollerwagen mitgezogen.

In Kirchseeon im Landkreis Ebersberg sind solche Trupps im Wald unterwegs, um sich dem Brauch aus dem Norden hinzugeben. Zwei Mal im Jahr ist Turnier, einmal im Monat wird trainiert. Die Boßel - eine Kugel - wird mit möglichst wenig Würfen über eine Strecke von meist mehreren Kilometern vorangebracht. Zwei oder mehrere Mannschaften treten gegeneinander an. Ein Herr aus Bremen habe den nordischen Freizeitkult nach Kirchseeon mitgebracht, berichtet der Vorsitzende des Boßelclubs Kirchseeon, Michael Stengert. Der Herr zog weg, das Boßeln blieb. "Es hat so vielen Leuten Spaß gemacht. Wir mussten immer mehr Kugeln kaufen und Equipment. Da haben wir beschlossen, einen Verein zu gründen."

2007 war das - mit dem Boßelclub Kirchseeon wurde Bayerns erster Boßel-Verein gegründet. Zum Boßeln - zumindest in der Freizeitversion - gehört im Norden auch Schnaps: Je nach Regelauslegung gibt es ein Stamperl, im Norden gern "Schnäpsken" genannt, an jeder Kreuzung, jeder Brücke oder auch mal jeder Straßenlaterne. Das allerdings hat man in Kirchseeon so nicht übernommen. "Diese Regel wird nicht mehr gemacht", sagt Stengert.

Das friesische Heimatspiel hat eine jahrhundertealte Geschichte. Die älteste verbriefte Urkunde stammt laut dem Kirchseeoner Verein aus dem Jahre 1585, als Herzog Adolf von Gottorf der Husumer Kegel- und Boßeljugend das Üben im Husumer Schlosspark erlaubte. Inzwischen ist es in einigen Gegenden im Norden zu einer wahren Industrie geworden mit während der Saison von Januar bis März von Chemietoiletten gesäumten Boßelstrecken, wahnwitzig ausgestatteten Bollerwagen und großen Partys mit Schnaps und Grünkohl.

"Natürlich passt das auch nach Oberbayern", sagt der Brauchtumsexperte

Aber: Haben die Bayern nicht genug eigene Bräuche und Spiele? Fingerhakeln, Eisstockschießen, Schafkopfen. Macht sich norddeutsches Brauchtum im Süden gut? Für Michael Ritter vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege ist das keine Frage. "Natürlich passt das auch nach Oberbayern", sagt der Brauchtumsexperte. "Es war ja immer schon so, dass sich Bräuche angepasst haben und Kulturtransfer stattgefunden hat." So hielt laut Landesverein im schwäbischen Horgau in Schwaben das Boßeln zeitweise Einzug, nachdem von dort ein traditioneller Almabtrieb in den Norden transferiert worden war. In Klein Escherde bei Hannover hatte der Heimatverein nach einer Grünkohlwanderung - die Tour zum Kohlessen ist auch norddeutsch und noch nicht in Bayern angekommen - die Idee, einen Almabtrieb zu inszenieren. Mangels Know-how wandten sich die Klein Escherder nach Bayern. Aus Schwaben reisten Almabtriebs-Helfer an, durften mitboßeln und planten daraufhin ein eigenes Turnier zu Hause. Allerdings ist dort das Interesse wieder abgeflaut.

Einen weiteren Boßelclub mit immerhin rund 80 Mitgliedern gibt es im mittelfränkischen Erlangen. "Ich bin gebürtiger Norddeutscher, ich hab' das hier eingeführt", sagt der Vorsitzende Jan-Frederik Gnichwitz. "Die Bayern sind ein gemütliches Völkchen. Geselligkeit zusammen mit einem kleinen Wettbewerb - das kommt sehr gut an." Allerdings biete der Freistaat gegenüber dem platten Ostfries- oder Emsland erschwerte landschaftliche Bedingungen, sagt Gnichwitz. Im hügeligen Gelände geht schneller mal eine Kugel verloren. Die Spieler müssen länger suchen und öfter Nachschub kaufen. Beim Boßel-Onlinehändler sei der Verein aus dem Süden deshalb bereits ein Hauptkunde.

Erlangen hat eine besondere Schnapsregel: den Strafschnaps für Fehler. Das verschärft den Abstand zwischen den Teams zusätzlich, mit höherem Alkoholpegel trifft man schlechter. An der Einführung des im Norden traditionellen Grünkohlessens nach erfolgter sportlicher Betätigung arbeitet Gnichwitz noch. "Ich habe Gastwirten das vorgeschlagen, und sie haben das Gericht für uns auch mal gemacht." Aber etabliert habe es sich nicht. Das Interesse am Boßeln ist laut Gnichwitz aber ungebrochen. Zu den Treffen kommen oft neue Mitspielerinnen und Mitspieler: Freunde - und Neugierige. "Wenn man im Wald herumläuft, kommen immer wieder Leute vorbei und fragen: Was macht ihr denn da?" Dann werden sie eingeladen.

Die beiden bayerischen Clubs in Kirchseeon und Erlangen beklagen vor allem die Schwierigkeit von Turnieren mit anderen Vereinen. Gleichgesinnte in Nachbarorten wie in der Heimat des Boßelns gibt es nicht, und die Anreise aus dem Norden ist weit. "Wir haben keine echten Konkurrenzvereine. Leider", sagt Stengert. Im Sommer sind er und seine Kirchseeoner nun in Erlangen eingeladen. Das ist zwar auch im Norden, aber nicht ganz so weit.

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