Süddeutsche Zeitung

Zweiter Weltkrieg in Unterfranken:Das kleine Glück im Inferno

Am 16. März 1945 zerstören britische Bomber Würzburg. Ein beinamputierter Soldat wagt das Verbotene und rettet so sein Leben. Er trifft ein Mädchen, das fast alles verloren hat. Geschichte einer Liebe, die alle Schrecken und Not überdauerte.

Von Oliver Das Gupta, Karlstadt am Main

Wie wunderschön dieser Tag doch ist, denkt sich Anton Marx am 16. März 1945. Der harte Winter scheint in Würzburg vorbei zu sein. Am Himmel ist keine Wolke zu sehen, die Frühlingssonne wärmt. Der Soldat macht sich auf den Weg zur Grünanlage hinter der Residenz, um das schöne Wetter zu genießen.

Er tut sich schwer mit den Krücken. Marx verlor an der Ostfront einen Fuß, der Splitter einer sowjetischen Granate hat ihm den rechten Unterschenkel zerfetzt. Im Oktober 1944 war das, wenige Wochen nach seinem 20. Geburtstag. Wenigstens ist der Krieg für mich vorbei, sagt sich Marx damals.

"Ich habe Glück gehabt", sagt Marx heute und blickt aus seinen alten Augen wach über den Wohnzimmertisch zu seiner Frau Eva. Nun sitzen die betagten Eheleute in ihrem Haus in Karlstadt am Main und erzählen ihre Geschichte. Wie der Zweite Weltkrieg Eva die Heimat geraubt hat und ihrem Mann ein Bein.

Wie sie in der schrecklichen Zeit ihr gemeinsames Glück gefunden haben. "Der Krieg hat uns zusammengeführt", sagt Eva. "Ja, das kann man so sagen", sagt Anton. Und der Krieg verschont Anton Marx am 16. März 1945.

An jenem Tag greift ein britischer Bomberverband Würzburg an. Bis dahin war die fürstbischöfliche Residenzstadt am Main weitgehend von Luftattacken verschont geblieben. Abgesehen vom Hauptbahnhof gibt es dort kaum kriegswichtige Ziele wie etwa Waffenfabriken. Doch in der Endphase des Zweiten Weltkrieges gehen den alliierten Luftflotten die Ziele aus. So kommt es, dass sich die Briten für den Luftschlag gegen Würzburg entscheiden - ein aus militärischer Sicht unnötiger Angriff.

Nun "coventrieren" die Briten Würzburg

Die deutsche Luftwaffe hatte 1940 die englische Stadt Coventry in Schutt und Asche gelegt. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels soll daraufhin das Wort "coventrieren" erfunden haben als Synonym dafür, Städte auszuradieren. Nun, einige Jahre später, "coventriert" die Royal Air Force Würzburg. Ein Flammenmeer verschlingt die Altstadt, in der Fachwerkhäuser eng beisammenstehen.

Der Vernichtungsgrad ist größer als in Dresden, die Briten taxieren die Zerstörung der Innenstadt auf 89 Prozent. Wie viele Menschen in dem Inferno den Tod finden, lässt sich nicht genau feststellen. Insgesamt gibt es wohl etwa 5000 Tote, darunter viele Ortsfremde. Am 16. März sterben viele Flüchtlinge, die aus den deutschen Ostgebieten vor der Roten Armee geflohen waren.

16. März 1945

Das von Luftangriffen bis dahin weitgehend verschont gebliebene Würzburg wurde am 16. März 1945 von der Royal Air Force bombardiert. Etwa 500 Flugzeuge warfen Brand- und Sprengbomben sowie Luftminen über der Residenzstadt ab. Rasch entwickelte sich ein Feuersturm, das Zentrum wurde weitgehend zerstört. In der historischen Innenstadt blieben nur eine Handvoll Häuser verschont. Etwa 5000 Menschen starben bei der Bombardierung. Mehr als 20 000 Wohnungen sollen zerstört worden sein, auch zahlreiche Kirchen und Baudenkmäler wie die Residenz waren kaputt oder stark beschädigt. Erst knapp 20 Jahre nach der Bombardierung waren die letzten Trümmer beseitigt. Wie jedes Jahr erinnert Würzburg auch an diesem 16. März mit verschiedenen Veranstaltungen an die Bombardierung und die Opfer. So gibt es einen "Weg der Versöhnung" in fünf Stationen zwischen dem Würzburger Hauptfriedhof bis zum Dom. Am Abend zieht die Würzburger Bevölkerung beim "Lichterweg" von zehn Orten ins Zentrum. Während der Zeit des Bombenangriffs (21.20 bis 21.40 Uhr) läuten in allen Kirchen der Stadt die Glocken. Im Rathaus werden Fotos aus überwiegend privaten Beständen gezeigt, die das Leben in der zerstörten Stadt und ihren Wiederaufbau zeigen. odg

Eva Wehner gehört zu denjenigen, die der Krieg nach Nordbayern getrieben hat. Im niederschlesischen Liegnitz, dem heutigen polnischen Legnica, war die damals 17-Jährige mit ihrer Familie Anfang Februar überstürzt aufgebrochen. Sowjetische Truppen waren schon am Flughafen vor der Stadt.

20 Minuten hatte sie Zeit, um ihre Sachen zusammenzupacken. Eva zog doppelt und dreifach Kleidung an, die wenigen anderen Dinge wurden in Körben verstaut. Ein Freund des Vaters holte die Familie ab. Es war ein Abschied ohne Wiederkehr. Im Zickzack ging es gen Westen.

Unterwegs griffen Tiefflieger an. Sie stürzten aus dem Fahrzeug, lagen im Schnee - und überlebten. Die Familie schlug sich nach Chemnitz durch, kauerte bei Luftangriffen im Keller. Die Angst schnürte Eva die Kehle zu, sie sah, wie dem Großvater Tränen über das Gesicht laufen, sie hörte ihre Mutter schreien. Die deutsche Ostfront zerbrach, die Flucht gen Westen ging weiter, auch in Viehwägen.

Die Familie kam durch Orte und Städte, deren Namen Eva nicht im Gedächtnis behalten konnte. Mitte März kamen sie wohl auch durch Würzburg, fuhren aber weiter. 40 Kilometer nördlich endete die Flucht im Dorf Gauaschach bei Hammelburg. Ein Bauer gab den Schlesiern ein Zimmer am 15. März 1945.

Einen Tag später hält der Postbus in Gauaschach und ein junger Mann mit Krücken steigt aus. Anton Marx ist von Würzburg in sein Heimatdorf gefahren. Es ist eine riskante Reise, denn der Soldat ist abgehauen - ein Vergehen, für das andere umgebracht wurden. Fanatische Nazis ermordeten in der Endphase des Weltkrieges unzählige vermeintliche oder tatsächliche Deserteure. Anton Marx will einfach kurz nach Hause.

Ein Kamerad hat ihm zuvor im Lazarett Karten gelegt. So eine schlechte Kombination habe er noch nie gehabt, sagt der andere Soldat zu Marx. Marx ist kein abergläubischer Mensch, aber seine Mutter ist krank. Er ist beunruhigt und will zu ihr fahren. Seine Uniformjacke hängt er im Schlafsaal hinters Bett. Die Zimmergenossen bittet er, ihn bei der Arztvisite zu entschuldigen. Er sei auf der Toilette, sollen sie sagen.

Marx geht mit seinen Krücken zum Bahnhof, niemand hält ihn auf. Er nimmt den Zug Richtung Karlstadt, 20 Kilometer mainabwärts. Alliierte Jagdflugzeuge beschießen den Zug, aber er kommt durch. Marx steigt in den Postbus am Abend. Die Fahrt zieht sich hin, denn der Bus fährt aus Sicherheitsgründen ohne Licht. Während der Fahrt sieht Marx plötzlich, wie der Himmel über Würzburg hell wird: Das Bombardement hat begonnen. Anton kommt gerade noch rechtzeitig nach Hause. Eine halbe Stunde später stirbt seine Großmutter. Seine Mutter erholt sich.

Am nächsten Tag ruft ihn ein Kamerad an, der das Krankenhaus ebenso verlassen hat. Von ihm erfährt er das Ausmaß der Zerstörung in der Stadt. Auch das Lazarett sei völlig kaputt, die anderen Verwundeten wohl alle tot. Marx bleibt bei den Eltern, die Trümmer von Würzburg sieht er erst nach Kriegsende.

Sexuelle Gewalt und Gefangenenmorde an der Ostfront

In Gauaschach, einem Ort von damals etwa 700 Einwohnern, lernt er Evas Mutter kennen und dann Eva. Es war Sympathie auf den ersten Blick. "Mensch ist das ein hübsches Mädchen", sei es ihm durch den Kopf gegangen, sagt Anton und das Mädchen von damals lacht laut. Eva mag ihn und geht mit ihm spazieren. Ein anderer Dorfbewohner schimpft, dass die "Kriegskrüppel die schönsten Mädchen" bekommen würden. "Das fand ich so gemein", sagt Eva Marx, "das hat uns nur noch mehr zusammengeschweißt."

1948 verloben sie sich, vier Jahre später heiraten sie. Eva ist evangelisch und Anton katholisch, dennoch zelebriert der katholische Pfarrer die Vermählung. Der Geistliche lässt ein paar Bestandteile weg und füllt die Zeit mit einer längeren Predigt.

1959 bauen sie in Mühlbach, einem Ortsteil von Karlstadt, ein Haus, zwei Töchter sind da schon auf der Welt. Marx arbeitet als Gemeindeschreiber, später als Zivilangestellter bei der Bundeswehr. Dort eckt er mitunter bei den Kollegen in Uniform an. Wenn er Söhne hätte und diese den Wehrdienst verweigern würden, fände er das in Ordnung, sagt Marx ihnen.

Er kann nicht vergessen, was er an der Ostfront 1944 erlebt hat. In seiner Einheit habe es Soldaten gegeben, die nicht mehr kämpfen wollten und deshalb erschossen wurden. Marx erzählt, dass er einmal mitbekam, wie sechs Wehrmachtssoldaten eine Baltin vergewaltigten. Sowjetische Soldaten, die sich ergeben hätten, seien ermordet worden. "Ich bin froh, dass ich das damals nicht machen musste", sagt er, und: "So wie wir uns verhalten haben, konnten wir keine Gnade von denen erwarten."

Selbstkritisch merkt er noch an, dass man damals vor dem Krieg ja davon gesungen habe, dass "uns morgen die ganze Welt" gehöre. "Wir hätten da doch erkennen müssen, worum es denen wirklich geht!" Marx schüttelt den Kopf, als ob er immer noch nicht fassen kann, was damals passiert ist.

Sonst sei er in Frieden mit sich, sagt er. Es sei eine Gnade, dass Eva und er gemeinsam so alt werden können. Jeden Morgen massieren sie sich wach "von den Zehenspitzen bis zur Platte". Angst vor dem Tod haben beide nicht. Nur davor, dass der andere zuerst stirbt. "Wenn du gehst, komme ich bald nach", sagt Eva.

Beim Abschied ist Anton Marx schneller an der Garderobe als der Gast, er hilft ihm in den Mantel. Arm in Arm stehen Eva und Anton Marx vor ihrer Haustüre und winken, zwei Liebende, die der Krieg zusammenbrachte.

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Quelle:
SZ vom 16.03.2015
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