Süddeutsche Zeitung

Zeitung in der Schule:Wahrheitssuche als Klassenziel

30 Ingolstädter Nachwuchsblattmacher lernen alles über die großen journalistischen Fragen und den Umgang mit der Kamera. Die Schülerinnen und Schüler profitieren gerade davon, dass ihre Vor-Vorgänger-Redaktion beim Schülerzeitungswettbewerb "Blattmacher" gewonnen hatten.

Von Viktoria Spinrad, Ingolstadt

Sie steht da, zwischen Palmen, das Gesicht geschniegelt und gestriegelt, die braunen Haare reichen ihr fast bis zum Bauchnabel. Cathy Hummels grinst auf dem Foto breit in die Kamera. In der Hand hat sie aber nicht etwa einen Drink oder eine Sonnenmilch, wie es vielleicht in die thailändischen Breitengrade passen würde. Vielmehr präsentiert sie eine eher klobige Haarbürste. "Wie gut, dass es die Entwirrbürste Wet & Dry gibt", schreibt die in Dachau geborene Influencerin dazu auf ihrem Instagram-Kanal.

"Was ist das?", fragt Sebastian Beck. Der Leiter des SZ-Bayern-Teams trägt zwar auch ein Thailand-taugliches Hemd. Allerdings steht er 9000 Kilometer weiter nordwestlich in einem Klassenzimmer der Beruflichen Oberschule in Ingolstadt. Draußen nieselt es, Palmen gibt es hier nur auf dem Bildschirm. Beck breitet die Arme fragend aus. Kurz ist es still auf den Bänken, auf denen ein Dutzend Schülerinnen und Schüler sitzen. Dann meldet sich einer zu Wort. "Werbung", sagt Daniel schließlich, Beck nickt.

Normalerweise wäre er um diese Uhrzeit wohl noch auf dem Weg zur SZ-Redaktion in München, und die Jungjournalisten der Ingolstädter Schülerzeitung "Insider" würde in ihren jeweiligen Klassen Romane interpretieren oder mathematische Kurvendiskussionen durchexerzieren. Stattdessen sitzen sie an diesem Morgen über der SZ-Ausgabe des Tages und diskutieren. Was ist noch Journalismus, was schon PR? Ist es eine private Entscheidung, wenn sich der stellvertretende Ministerpräsident nicht impfen lassen mag? Und geht es die Öffentlichkeit etwas an, wenn es drei geflüchtete Syrer waren, die Mädchen in einem Schwimmbad begrapscht haben?

Im Club der Besten

Den Ethikworkshop mit dem SZ-Redakteur und den Videoworkshop im Nebenraum haben die Schüler ihren Vor-Vorgängern bei der Schülerzeitung zu verdanken. Die haben im vergangenen Jahr mit ihren Reflexionen zu Lockdown und Homeschooling den ersten Platz beim "Blattmacher"-Schülerzeitungswettbewerb der SZ, der Nemetschek-Stiftung und des bayerischen Kultusministeriums abgeräumt. Als Mitglieder im "Club der Besten" können ihre Nachfolger an diesem Morgen nun das Gesäte ernten: Sie alle nehmen an einem von zwei parallel stattfindenden Workshops teil.

Während der selbsternannte "SZ-Dinosaurier" Beck zu einem der journalistischen Dilemmas ansetzt, geht es bei Maria Rilz im Nebenraum darum, ebensolche zu vermeiden. Stativ, Kamera, LED-Leuchte: Dazu hat die Münchner Filmemacherin ihre gesammelte Ausrüstung mitgebracht. Doch was ist ein Clip schon ohne Konzept? Das weiß auch Tristan, einer der Schüler. Er hat sich in der Vergangenheit bereits mit verschiedenen Drehtechniken beschäftigt, weiß, dass man Filme lieber kurz halten sollte. Rilz schnipst in die Hand, "zack, zack, zack". Wie schwer das filmisch einzufangen ist, wird Tristan noch spüren.

Derweil ist der Trupp im Raum nebenan bei einem in Medienkreisen hoch umstrittenen Thema angekommen. Sollte man die Nationalität von ausländischen Straftätern nennen? Matthias, braune Haare, Jeansjacke, meint: lieber nicht. "Damit gießt man ja nur Öl ins Feuer", sagt er. Jasmin dagegen wiegt den Kopf. Schwierig. Auf der einen Seite verheimliche man einen Teil des Gesamtbilds, auf der anderen befeuere man die Emotionen. Und wenn alle anderen es doch auch schreiben? Sie lernt: Die SZ folgt dem Pressekodex, nennt die Nationalität nur nach Abwägung, andere Medien machen es anders - und handeln sich in der Folge regelmäßig Rügen ein.

Eine solche möchte Isa tunlichst vermeiden. Im Flur geht die Schülerin mit der Kamera in die Knie, auf dass das Bild nicht verwackelt, und marschiert los. Mit Kameras kennt sie sich aus, sie fotografiert selber analog. Mit einem Gimbal - das ist eine Art Kamerastabilisator, der sich ständig selber neu justiert - war sie aber noch nicht unterwegs, genauso wenig wie der Rest ihres Trosses. "Fliegt", ruft ihr Lehrer noch auf dem Flur hinterher. Doch es gibt Turbulenzen. Das Gimbal scheint ein Eigenleben zu entwickeln. "Es wackelt so crazy", ruft Isa, alle in ihrem Team kichern.

Wackeln verboten

Ins Wackeln, nein ins Wanken gerät auch der Journalismus immer wieder. "Lügenpresse halt die Fresse!", prangt jetzt in Graffito-Form auf dem Bildschirm im Klassenzimmer - eine beliebte Parole, um Misstrauen über die Glaubwürdigkeit der Medien zu schüren. Beck betont, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Doch leider teile sich die Gesellschaft immer mehr in Untergruppen auf, die nicht mehr miteinander reden. "Schlimm sei das", sagt er. Ein Schüler berichtet von einer Bekannten, die zunehmend Verschwörungstheorien verbreite - und das, obwohl sie Medizinerin sei.

Derweil ist die Filmgruppe unten in einem Raum angekommen, wo sich Tristan im Flirt mit der Kamera übt. Er greift sich einen bunt bemalten Stuhl, dreht sich zur Linse und holt breit gestikulierend zu einem wahrhaftigen Epos aus. "Die Farben müssten eben fließen, sich unten am Boden betten", sinniert er. Wie gut er doch Stühle beschreiben könne, lobt eine Mitschülerin. Derweil steht Isa hinter der Kamera. Den Autofokus hat Maria Rilz ihr längst umgestellt, das Gimbal zuckt jetzt nicht mehr wie verrückt.

Herausfordernd bleibt derweil oft der Arbeitsalltag von Journalisten wie Sebastian Beck. Tag für Tag müssen sie aus dem immer größeren Wust von Meinungen, Behauptungen und vermeintlichen Wahrheiten herausdestillieren, was sich tatsächlich gerade ereignet. Keine einfache Aufgabe. Die Welt sei nun einmal kompliziert und uneindeutig, sagt er. "Misstraut allen Geschichten und Meinungen, die zu simpel sind", appelliert er an die Schüler.

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