Süddeutsche Zeitung

Bildungspolitik:In Bayern ist gelungene Inklusion "immer noch nicht in Sicht"

  • Für eine Umfrage zur Inklusion wurden 500 Lehrer aus Bayern zu den Rahmenbedingungen an ihren Schulen befragt.
  • Dabei bekommt die Staatsegierung zum Großteil schlechte Noten: Die Lehrer bemängeln vor allem die unzureichende Vorbereitung und das wenige Personal.
  • Um die Wünsche der Lehrer zu erfüllen, wären 30 000 zusätzliche Fachkräfte nötig.

Von Anna Günther

Die deutliche Mehrheit der Lehrer ist für gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern - sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Doch das ist in Bayern offenbar nur selten der Fall. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine repräsentative Umfrage, die der Bundesverband Bildung und Erziehung in Auftrag gegeben hat. Die Meinungsforscher des Forsa-Instituts sprachen im April und Mai mit 2000 Lehrern über Inklusion. Davon wurden 500 Lehrer aus Bayern dezidiert zu den Bedingungen an ihren Schulen befragt. "Gelungene Inklusion ist immer noch nicht in Sicht, weil es an allem fehlt", sagte Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrerverbandes am Montag.

Die Klassen seien noch zu groß, die Räume zu klein und die Lehrer alleine mit einer Gruppe. Außerdem fehle es den Befragten zufolge an Fortbildungen, Vorbereitungszeit auf eine Inklusionsklasse und Fachpersonal. Das führt dazu, dass sogar die befragten Lehrer, an deren Schule es bereits Inklusionsklassen gibt, eher Abstand halten, weil sie sich nicht ausreichend vorbereitet fühlen. 43 Prozent wäre es auch unter Idealbedingungen lieber, wenn behinderte Kinder in den sonderpädagogischen Förderzentren unterrichtet würden. Anders als etwa in Nordrhein-Westfalen hält Bayern an den Förderzentren fest. Priorität hat die beste Förderung des Kindes, egal ob es diese in der Sonder- oder in der Regelschule bekommt. "Die Lehrer sind nicht gegen die Inklusion, aber sie sollen oft der Buhmann sein, wenn etwas nicht klappt", sagte BLLV-Präsidentin Fleischmann. Dabei seien nicht die Pädagogen schuld daran, wenn Inklusion nicht funktioniere, sondern allein die Politik.

Und die Zahl der Inklusionskinder an Regelschulen steigt stetig, die Zahl der Schüler in Förderzentren aber auch. Das liegt aus Sicht der Experten daran, dass heute bei immer mehr Schülern sozial-emotionale Entwicklungsstörungen festgestellt werden. 2011 waren es 6500 Kinder, vier Jahre später schon 8200. Diese Diagnose gilt für die Mehrheit der 74 000 bayerischen Förderschüler. Gut 20 000 von ihnen lernen an Regelschulen, wobei die Grund- und Mittelschulen 90 Prozent der Schüler aufnehmen. An Gymnasien und Realschulen gilt auch für Inklusionskinder der Notenschnitt als Zugangsvoraussetzung.

Trotz allem halten viele Lehrer gemeinsames Lernen für sinnvoll, weil es Toleranz sowie soziale Kompetenzen fördere und Berührungsängste abbaue. Seit neun Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention, 2011 beschloss der bayerische Landtag, diese in den Schulen umzusetzen. Dafür geben die bayerischen Lehrer der Staatsregierung nun eher schlechte Noten: Die große Mehrheit der Befragten beklagt fehlende Fortbildungsangebote und gibt an, dass der Umgang mit Inklusionskindern in ihrem Studium kein Thema war. Das ergibt im Schnitt die Note 4,2; 42 Prozent der Befragten gaben sogar noch schlechtere Noten. Die personelle Ausstattung bewerteten die Pädagogen mit 4,7 - also mangelhaft. Am Personal hängt, ob Lehrer sich zutrauen, in ihrer Klasse behinderte Kinder zu fördern. 97 Prozent der Befragten wünschen sich ständig einen Sonderpädagogen an ihrer Seite, um allen Kindern gerecht werden zu können.

Auch die Oppositionsparteien und einige Lehrerverbände fordern seit Jahren "multiprofessionelle Teams". Realität sind diese Tandems nur bei 22 Prozent der Befragten, wobei nicht klar ist, welchen Beruf der Zweite im Team hat. Denn auch wenn an vielen Schulen Sozialpädagogen angestellt sind, müssen diese sich in der Regel um alle Kinder kümmern und können nicht ständig in der Inklusionsklasse sein. Gleiches gilt für Schulpsychologen. Sonderpädagogen fehlen ohnehin, das ist für die Förderzentren ein immenses Problem: 800 Stellen sind derzeit laut Johann Lohmüller, dem Vorsitzenden des Sonderpädagogenverbandes, unbesetzt.

Auch der Mobile Sonderpädagogische Dienst, der stundenweise Regelschulen mit Inklusionsklassen betreut, sei massiv unterbesetzt. Die Förderzentren sind auf Realschul- und Gymnasiallehrer angewiesen, die umsatteln. Denn die Universitäten in Würzburg und München können nicht die erforderliche Zahl von Sonderpädagogen ausbilden. Die Staatsregierung versucht zwar im Zuge des Bildungspaketes nachzubessern, denn von 2019 an soll auch die Uni Regensburg Sonderpädagogen ausbilden, und 240 zusätzliche Stellen sind für die 351 Förderzentren vorgesehen, aber kurzfristig wird das die Situation nicht verbessern.

Im Kultusministerium verweist man auf ein verbessertes Fortbildungsprogramm, ein neues Modul "Inklusion" im Lehramtsstudium und 600 Stellen, die seit 2011 für die Umsetzung des gemeinsamen Lernens geschaffen wurden. Um die Wünsche der Lehrer zu erfüllen und Teams zum Standard zu machen, wären 30 000 zusätzliche Fachkräfte nötig. "Das ist natürlich eine Vision", sagte BLLV-Präsidentin Fleischmann. Trotzdem fordert sie "massive Investitionen" von der Staatsregierung und ein Gesamtkonzept. "Das Vertrauen der Lehrer in das Konzept der Inklusion muss zurückgewonnen werden."

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SZ vom 30.05.2017/eca
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