Bildung:Von wegen Sparmodell

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In der Grundschule Tittmoning lernen Erst- und Zweitklässler gemeinsam. Was andernorts Proteste auslöst, wirkt sich auf die Kinder positiv aus

Von Anna Günther

Jeder Tiger setzt sich zu seinem Bären!", ruft Sandra Kufner. 23 Mädchen und Buben springen auf und wuseln durch den Raum. Als alle wieder sitzen, wirkt die Schulleiterin Kufner zufrieden. Tiger? Bären? Fasching? Kostümiert ist an diesem Morgen kurz vor Weihnachten keines der Kinder. Wer in der Grundschule Tittmoning Tiger und wer Bär ist, können Unbeteiligte nicht erkennen. Während man rätselt, legen die Schüler los: Sie sollen Substantive ausschneiden, den Plural bilden, die Veränderung im Wort markieren und es einer Gruppe zuordnen. Kufner sagt mal "Namenwörter", mal "Nomen". "Aus einem Apfel werden?", fragt Sarah. Nina antwortet: "Viele Äpfel." Sarah lobt und markiert die Punkte über dem A. Das Wort "Apfel" gefällt Nina, sie macht Apfel-Abbeiß-Geräusche, "chhhrrrpp, chhhrrrpp", schaut zur Nachbarin und lacht. Sarah rollt mit den Augen. Nächster Begriff, los.

Unterschiede sind den Pärchen kaum anzusehen. Aber diese Klasse ist anders als die allermeisten an den 2400 bayerischen Grundschulen. In Tittmoning lernen Erst- und Zweitklässler gemeinsam. Dort ist seit 2016 üblich, was im vergangenen Sommer an einigen Grundschulen im Freistaat Proteste auslöste: Jahrgangsgemischte Klassen. Weil mit dem neuen Einschulungskorridor mehr Eltern als gedacht ihre Kinder im Kindergarten ließen, standen Kitas vor Platzproblemen. Schulen mussten ihre Klassenplanung umwerfen. Die Mischung als schnelle Lösung. Auch am Chiemsee protestierten Eltern gegen Kombiklassen aus Sorge, die Jüngeren würden vernachlässigt.

Die Rollen sind klar verteilt: Die Zweitklässler leiten die Jüngeren an, loben oder korrigieren. Die Erstklässler lernen spielerisch den Stoff der älteren mit. Die Lehrerinnen greifen nur ein, wenn es sein muss. (Foto: Florian Peljak)

30 Kilometer entfernt in Tittmoning werden aus Prinzip keine reinen ersten und zweiten Klassen gebildet, obwohl es genügend Kinder gäbe. Kufner kennt die Vorurteile. "Eltern gehen auf die Barrikaden, weil sie nur an die Mischung der Jahrgänge denken und Unterricht wie früher im Kopf haben", sagt sie. Die Mischung als Sparmodell. Diese Sorgen könne sie sogar nachvollziehen, sagt Kufner. Aber damals sei ganz anders unterrichtet worden, der Lehrer kümmerte sich um eine Gruppe, alle anderen machten Stillarbeit. Selbst in kleinsten Dorfschulen lernten Kinder heute nicht mehr so wie vor 100 Jahren, sagt Kufner. Ihre Töchter besuchten so eine kleine Schule. Das Konzept in Tittmoning geht aber weit über die Mischung hinaus.

Die Schule ist eine von 279 "Flexiblen Grundschulen" in Bayern. 2010 als Modellversuch begonnen, steht das Konzept längst allen offen. Die Mischung der ersten und zweiten Klasse ist Pflicht. Alle Kinder sollen individuell, aber gemeinsam gefördert werden. "Wir machen 70 bis 80 Prozent gemeinsamen Unterricht", sagt die Schulleiterin. Besonders clevere Schüler können nach einem Jahr von der ersten Klasse in die dritte springen - ohne Stigma, sie kennen einen Teil der Gruppe. Langsame Lerner haben drei Jahre Zeit. Jeder werde auf seinem Niveau abgeholt und gefördert, sagt Kufner. Vor fünf Jahren suchte sie nach einem Konzept, um die großen Niveauunterschiede zwischen Kindern aus bildungsaffinen Familien und jenen auszugleichen, in denen Eltern sich kaum engagieren. Damit die Vorurteile das Projekt nicht verhindern, nahm sie sich Zeit für die Kommunikation und bezog Politiker, Eltern und Kollegen ein.

Schulleiterin Sandra Kufner ist das soziale Lernen wichtig. (Foto: Florian Peljak)

Die jüngeren Schüler hören in Tittmoning früher als üblich, dass Namenwörter auch "Nomen" heißen. Sie sehen früher, wie sich ein Wort im Plural verändert. Und erinnern sich später daran, wenn sie es selbst lernen müssen. "Die Kleinen werden immer mitgenommen, aber nicht kleingehalten", sagt Kufner. Sie orientierten sich an den Zweitklässlern, so wie sie es vom Kindergarten kennen. "Früher dauerte es bis Weihnachten, den Kleinen beizubringen, wie Schule läuft. Das ist extrem anstrengend. Jetzt halten sie sich an ihre Paten", sagt Kufner. Das gebe ihnen Sicherheit und schüchternen Zweitklässlern einen Selbstbewusstseinsschub.

Dieses soziale Lernen ist Kufner wichtig. Darin liege ein Unterschied zum konventionellen Unterricht. Die Übertrittsquote verändere sich kaum. Mit ihren Flexi-Kollegen besucht sie die Kindergärten und überlegt mit Erziehern genau, welcher Neuling zu welchem Paten passt. Mit Kuschelpädagogik oder Sparen hat das nichts zu tun. Der Lehrplan gilt wie überall. Kufner muss Stunden neu konzipieren, Zusatzmaterial erstellen und sich Klausuren mit zwei Niveaus ausdenken. Dafür sind die Klassen kleiner und Kufner bekommt stundenweise Hilfe einer Kollegin, um die Gruppen etwa in Mathe oder Deutsch zu teilen. Alles andere lernen die Kinder gemeinsam. Das Konzept sei sehr aufwendig, sagt die Schulleiterin. Aber die Vorteile überwiegen für sie.

Wer die Kinder an diesem Morgen sieht, ahnt, was sie meint: So geschwisterlich-innig sieht man Schüler selten. Maulerei gehört trotzdem dazu. "Wie ging es euch?", fragt Kufner am Ende der Stunde. Ein Bub sagt, sein Tiger habe nur Schmarrn gemacht. "Dann muss der Bär mehr steuern", sagt Kufner. Die Daumen der anderen Kinder zeigen nach oben.

© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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